26.06.2002
Palästinenser streiten über Selbstmordanschläge

Ein Gott, ein Staat, ein Attentat

In der palästinensischen Politik und Gesellschaft wächst die Kritik an den Selbstmordanschlägen, die bislang alle Bemühungen um Vermittlung torpediert haben.

Umm Nidal ist eine altgediente Islamistin. Während der ersten Intifada versteckte sie den Kommandanten des militärischen Flügels der Hamas in ihrem Haus. »Jihad ist ein uns auferlegter Befehl«, sagte sie in einem Interview der Tageszeitung al-Sharq al-Awsat, »ich ermutigte alle meine Söhne, den Tod eines Märtyrers zu sterben.« Als ihr Sohn Muhammad Farhat bei einem Selbstmordattentat starb, bereitete sie sich auf die Besucher vor, »die in großer Zahl kamen und an unserer Freude über Muhammads Märtyrertum teilhatten«.

Die Haltung Umm Nidals ist nicht repräsentativ für palästinensische Eltern. »Wenn er mich um Rat gefragt hätte, hätte ich ihm gesagt, er soll es nicht tun«, erklärte der Vater des 22jährigen Muhammad al-Ghouls, der am Dienstag vergangener Woche in Jerusalem mit einer Autobombe sich und 19 Israelis in die Luft sprengte. Große Teile der palästinensischen Gesellschaft befürworten jedoch die »Märtyrermissionen«.

Allerdings wächst auch die Kritik, denn es ist offensichtlich, dass die Anschläge auf israelische Zivilisten sämtliche Verhandlungsbemühungen torpedieren. So verschob US-Präsident George W. Bush vor allem wegen des Anschlags von Jerusalem seine für die vergangene Woche angekündigte Grundsatzerklärung zum Nahost-Konflikt. »Der Präsident will seine Rede dann halten, wenn sie die größte Wirkung hat und die besten Aussichten auf Frieden in der Region bringt«, erklärte sein Sprecher Ari Fleischer. Die israelische Regierung schickte erneut die Armee in die palästinensischen Gebiete, verbunden mit der Drohung, die militärische Besetzung für längere Zeit aufrechtzuerhalten und möglicherweise Arafat auszuweisen.

Am Mittwoch vergangener Woche veröffentlichten 55 Intellektuelle und Politiker in der palästinensischen Tageszeitung al-Quds einen Aufruf, in dem sie ein Ende der Selbstmordattentate fordern: »Sie zerstören die Möglichkeit, dass beide Völker Seite an Seite in zwei benachbarten Staaten leben.« Die Unterzeichner, überwiegend gemäßigte Nationalisten aus der Umgebung der palästinensischen Autonomiebehörde (PA), argumentieren mit den negativen Folgen der Anschläge. Sie stärkten »auf der anderen Seite die Feinde des Friedens« und legitimierten Sharons Politik.

In der Nähe der palästinensischen Autonomiebehörde (PA) Yassir Arafats scheint sich die Einsicht zu verbreiten, dass die Selbstmordanschläge dem Anliegen der Staatsgründung schaden. Hinzu kommt ein machtpolitischer Aspekt. Dass politische Organisationen eigenmächtig über solche Operationen entscheiden, hält Ahmed Ghneim, ein politischer Berater Arafats, für inakzeptabel. Notwendig sei »die Handhabung durch ein nationales Komitee, um über die Zeit und die Stufe zu entscheiden, in der die Benutzung dieser Waffe angemessen ist«.

Auch in linksnationalistischen Kreisen wird nun die Nützlichkeit der Selbstmordattentate bezweifelt. »Wir glauben, dass alle Formen des Widerstands - politische, diplomatische, militärische und Märtyrermissionen - legitime Methoden des Kampfes gegen die Besatzung sind«, erklärte Abdul-Rahim Mulawweh, Vize-Generalsekretär der PFLP. Aber er gibt zu bedenken: »Wir müssen jenen Methoden Priorität einräumen, die uns der Erreichung unserer nationalen Ziele näher bringen.«

Vertreter der islamistischen Organisationen dagegen plädieren für eine Fortsetzung der »Märtyrermissionen«. Denn mit ihnen, so Sheikh Farhat Assad, Hamas-Führer in Ramallah, hätten die Palästinenser erstmals eine »unbesiegbare Waffe« gefunden. Und die Benutzung dieser Waffe, so Assad, werde von der Mehrheit der Bevölkerung befürwortet. Die Ergebnisse von Umfragen bestätigen diese Behauptung, allerdings verliert die Unterstützung für das Märtyrertum an Boden. Nach Angaben des Palestinian Center for Political and Community Research befürworten derzeit 52 Prozent der Palästinenser Selbstmordanschläge in Israel, sechs Prozent weniger als zu Jahresbeginn.

In der palästinensischen Debatte fließen gesellschaftliche und politische Trends ineinander. Die Rekrutierung von Kindern und Jugendlichen für den Kampf gegen Israel ist schon vor der aktuellen Debatte auf Kritik gestoßen (Jungle World, 19/02), seitdem werden die auch für die palästinensische Gesellschaft fatalen Folgen des Märtyrerkults nicht mehr widerspruchslos akzeptiert.

Den nationalistischen Organisationen scheint langsam klar zu werden, dass sie sich im Bemühen um street credibility auf einen Wettlauf mit den Islamisten eingelassen haben, den sie nicht gewinnen können. Vor einschneidenden politischen Konsequenzen aber schrecken sie zurück. Ihre Vertreter behaupten weiterhin, die Selbstmordattentate seien allein eine Folge der israelischen Besatzungspolitik und der in den palästinensischen Gebieten herrschenden Verzweiflung.

Selbst auf der individuellen Ebene ist ein Selbstmordanschlag jedoch nicht immer eine Verzweiflungstat. Einige Attentäter kamen aus dem Elendsmilieu der Flüchtlingslager, andere standen am Beginn einer akademischen Karriere oder waren wohlhabende Familienväter. Sie alle handelten im Auftrag politischer Organisationen, die kühl kalkulierte Ziele verfolgen. Der erste palästinensische Selbstmordanschlag wurde 1993 von der Hamas durchgeführt, zu einer Zeit, als in Oslo verhandelt wurde und sich nach sechs Jahren Intifada eine Entspannung der Lage abzeichnete. Die linksnationalistischen Organisationen verbündeten sich damals mit den Islamisten im Kampf gegen die Osloer Verträge.

PA und Fatah setzten sich durch die Mobilisierung der Al-Aqsa-Intifada selbst unter Zugzwang, denn alle palästinensischen Organisationen mussten sich nun bemühen, ihre Effektivität im Kampf gegen Israel zu beweisen. Seit Dezember vergangenen Jahres beteiligen sich auch die Al-Aqsa-Brigaden der Fatah an Selbstmordanschlägen, teils in Kooperation mit islamistischen Gruppen. Dieser nationalreligiöse Schulterschluss gefährdet auch Arafats Macht.

Die Islamisten haben durch die Eskalation an Einfluss gewonnen. Doch ungeachtet ihrer ideologisch kompromisslosen Haltung begannen sie erst 1987 mit Angriffen auf Israel. Die Zahl islamistischer Selbstmordanschläge in den neunziger Jahren schwankte mit den Erfolgen und Misserfolgen im Verhandlungsprozess und den entsprechenden Stimmungen in der palästinensischen Öffentlichkeit. Ein Meinungsumschwung könnte die Islamisten zu einem Waffenstillstand zwingen.

Die Beendigung der Selbstmordanschläge ist weniger eine polizeilich-militärische als eine politische Frage. Auch der israelischen Armee ist es nicht gelungen, die terroristischen Netzwerke entscheidend zu treffen. Insofern ist es fraglich, ob die wesentlich schwächeren palästinensischen Sicherheitskräfte mehr Erfolg hätten. Nur durch eine politische Isolation der Islamisten könnten die Selbstmordanschläge beendet werden. Dazu aber müssten Nationalisten und Linke mit der militaristischen Ideologie und dem Märtyrerkult brechen, die auch ihre eigenen Organisationen prägen, und eingestehen, dass die Vorstellung, Israel durch eine Eskalation der Gewalt zu größeren Zugeständnissen zwingen zu können, eine Fehlkalkulation war. Um den unbequemen Bruch mit dem nationalreligiösen Konsens zu vermeiden, beschränkt sich ihre Kritik jedoch auf taktische Aspekte.

Implizit allerdings hat Arafat das Scheitern der Al-Aqsa-Intifada mittlerweile eingeräumt. In einem Interview mit der israelischen Tageszeitung Ha'aretz unterstützte er in der vergangenen Woche die Erklärung der Intellektuellen, signalisierte Kompromissbereitschaft in der Flüchtlingsfrage und schien bereit zu sein, auf den in der US-Regierung diskutierten Plan der Gründung eines »provisorischen« palästinensischen Staates ohne festgelegte Grenzen einzugehen, den PA-Vertreter zuvor abgelehnt hatten. Arafat bestätigte, dass er einen Unterhändler mit neuen Verhandlungsvorschlägen nach Washington entsandt hat. Er akzeptiere den Clinton-Plan, der im Wesentlichen den Vorstellungen des damaligen israelischen Premierministers Ehud Barak entspricht (Jungle World, 25/02). In den Verhandlungen kurz nach Beginn der Al-Aqsa-Intifada hatte Arafat diese Vorschläge abgelehnt.