So manches Requiem wurde auf sie schon gehalten - Legitimationsschwund, Mitgliederverluste, neue Arbeitsverhältnisse -, die Gewerkschaften schienen ein Auslaufmodell. Mit den Generalstreiks in Spanien und Italien haben sie sich eindrucksvoll zurückgemeldet. In Portugal, Griechenland und Frankreich zeichnen sich die nächsten großen Streiks ab. Wer gutwillig ist, kann auch die Arbeitsniederlegungen in der deutschen Metall- und Baubranche in diese Liste einreihen. Die Wahlniederlagen der sozialdemokratischen Regierungen und die Erfolge konservativer und rechtsextremer Parteien werden begleitet von einem Comeback der Gewerkschaften in ganz Europa. Und Grund zum Streik gibt es allemal.
Zum Beispiel in Deutschland. Seit Anfang der neunziger Jahre übten sich die Gewerkschaften in vornehmer Zurückhaltung. In der Folge sanken die Reallöhne zwischen 1993 und 2001 um 6,5 Prozent, während im selben Zeitraum die ausgewiesenen Nettogewinne der Kapitalgesellschaften um 85 Prozent stiegen. Nach der marktfundamentalistischen Wirtschaftslehre waren also die Voraussetzungen für einen Rückgang der Erwerbslosigkeit erfüllt. Das Gegenteil trat ein, die offizielle Arbeitslosenzahl wuchs von drei Millionen im Jahr 1992 auf deutlich mehr als vier Millionen, die im Jahresdurchschnitt 2002 sicher erreicht werden.
Tendenziell sieht die Entwicklung in ganz Euroland so aus. Und selbst dort, wo die Zahl der Arbeitslosen zurückging, führten die meisten der neuen Jobs nicht zu besseren Lebensbedingungen. Schuften und trotzdem arm sein, lautete das Ergebnis. Denn überall wurden Sozialleistungen gestrichen, und der Druck auf Erwerbslose wurde erhöht, jeden miesen und schlecht bezahlten Job anzunehmen.
Nicht zuletzt der Unmut über diese Politik der Flexibilisierung der Arbeitskraft und über das Anwachsen der Kluft zwischen oben und unten spülte ab Mitte der Neunziger in Westeuropa die Sozialdemokraten auf die Regierungsbänke. Der »dritte Weg« aber erwies sich bald als ein um Aufrüstung nach innen und außen angereicherter Thatcherismus mit menschelndem Antlitz. Nur dass die Sozialdemokraten gegenüber ihren konservativen Vorgängern den Vorzug besaßen, die Gewerkschaften in ihre Politik von weniger Sozial- und mehr Polizeistaat besser einbeziehen zu können.
Die in sie gesetzten Hoffnungen haben die Sozis nicht erfüllen können. Folglich beschränkt sich der kurze Frühling der europäischen Sozialdemokratie auf eine Legislaturperiode. Seit geraumer Zeit wird sie der Reihe nach abserviert: Österreich, Belgien und Finnland (1999), Italien und Dänemark (2001), Portugal, Niederlande und Frankreich (2002), demnächst vielleicht Schweden und Deutschland.
Nun deutet sich eine neue Welle sozialer Kämpfe an. Angesichts der integrativen Funktion der Gewerkschaften ist darüber hinaus die übernächste Etappe programmiert. Ab Mitte des Jahrzehnts stünde wieder die Ablösung der Konservativen an. Eine Entwicklung, wie sie die ehemaligen Ostblockstaaten vorexerzieren, dort wechseln sich regelmäßig die jeweilige Regierung und die Opposition mit der Übernahme der Amtsgeschäfte ab, während insbesondere die Wirtschafts- und Sozialpolitik durch eine schöne Kontinuität gekennzeichnet ist.
Ein Horrorszenario droht, wenn die lauter werdenden Appelle an den Nationalstaat zum Schutz der Lohnabhängigen - die die Forderung nach Abschottung gegen Zuwanderer ohnehin implizieren - sich offen rassistisch artikulieren. Der Antikapitalismus von rechts, den die Rechtspopulisten propagieren, würde als autoritäre Formierung auf breiter gesellschaftlicher Basis den Kontinent auf Dauer prägen.
Etwas völlig anderes wäre es, wenn linksradikale Kräfte die sozialen Kämpfe in eine Richtung lenkten, die auf korporatistische Modelle pfeift und zusammen mit den Armutsflüchtlingen die Verhältnisse im Ganzen in Frage stellt. Die vernünftigste Option aber ist, wen wundert's, die am wenigsten wahrscheinliche.