Mein Gott Walter
Das Jahr 1954. Ein deutscher Alptraum: Fritz Walter, der »Große Fritz« (Bild), der Held von Bern, der Chef auf dem Spielfeld, »Fußball-Genius« (Der Tagesspiegel), die »Verkörperung einer neuen Spielidee« (Der Spiegel), weckt Begehrlichkeiten im Ausland. Der Hypersensible, der sein herausragendes Talent damit bezahlen muss, »dass er wie kaum ein anderer internationaler Spieler von Stimmungen, von zufälligen Nervenbelastungen abhängig ist« (Kicker) - er widersteht tapfer den diversen finanziell und weiblich daher kommenden Versuchungen. Bis sich eine Männerfreundschaft als Täuschung erweist: das erbetene und gegebene Autogramm ist die erschlichene Unterschrift unter einen Transfervertrag nach Südamerika.
Fritz Walter statt in der Pfalz in Uruguay? Weil das nicht sein darf, entwindet er - schon außer Landes und auf dem Weg nach Paris - dem schurkischen Latino-Manager den Vertrag, zerreißt ihn, springt vom fahrenden Schnellzug und eilt ins Trainingslager der Nationalmannschaft, wo er Sepp Herberger seine Rückkehr mit den historischen Worten meldet: »1:0 für Deutschland!« Gerade noch mal gutgegangen.
So sah der Plot eines Spielfilmprojekts aus, das der Wiener Sportreporter Heribert Meisl und der Münchener Alteisenhändler Hans Schubert ausgeheckt hatten. Der war im Fußballfilm erfahren; sein anderthalbstündiger Streifen über die Weltmeisterschaft von 1954 spielte prächtig Geld ein. Und für den neuen Film sollten in den Haupt- und Nebenrollen Originalakteure ran: Fritz Walter, Mitspieler, Chef - alles echt.
Auch wenn aus dem Mannschaftsausflug ins Filmgeschäft nichts wurde - der Deutsche Fußballbund (DFB) beschied den Projektleitern, der »Geist der Nationalmannschaft« lasse sich nicht auf Zelluloid bannen -, wirft diese Episode ein Schlaglicht auf die ungeheure Popularität Fritz Walters, die ganz überwiegend auf dem Sieg im Weltmeisterschaftsfinale von 1954 gründete. Er selbst zweifelte daran, als drei Niederlagen folgten und Presse und Öffentlichkeit Kritik übten. »Über Nacht war die Weltmeisterschaft so gut wie vergessen.« Er täuschte sich. Der Weltmeistertitel ist ein Teil der Gründungsgeschichte der Bundesrepublik, und er ist kein geringer.
Was bewirkte der Sieg im Berner Wankdorfstadion am 4. Juli 1954? Was verschaffte ihm einen zentralen Platz in der Gründungsgeschichte der Bundesrepublik? Da kommt einiges zusammen. Wer die Bedeutung des 3:2 ermessen will, muss beim Selbstwertgefühl derer beginnen, die da unversehens zu Weltmeistern gemacht wurden. Die Deutschen hatten in zwölf Jahren die Welt um ihr moralisches Gefüge und sich selbst um ihre Identität gebracht. Sie hatten einen Krieg angefangen und verloren, standen als Täter da, von denen alle Welt wusste, dass sie Verbrechen in einem zuvor nie für möglich gehaltenen Ausmaß begangen oder geduldet hatten.
Zwar gab es, im Westen, alsbald die »Gnade des Nullpunktes« (Die Gegenwart), die Offerte eines politischen und gesellschaftlichen Neuanfangs, doch sie beruhte auf der Kenntnis der Vergangenheit und bedeutete nicht die Entlassung aus der Verantwortung. Orientierungswissen, Werte, fast alles war verlorengegangen. Eine Nation, die sich als Gemeinschaft schuldig gemacht hatte, stürzte sich in den Wiederaufbau, vollbrachte das Wirtschaftswunder und versuchte auf diese Weise, ein Stück Normalität wiederzugewinnen. Die so genannte internationale Gemeinschaft mochte dabei nur begrenzt mitspielen; der Status eines Outcast verflüchtigte sich nicht entsprechend der Steigerungsrate des Bruttosozialprodukts.
Und dann fiel das 3:2. Dieser Sieg verdeutlichte auf einen Schlag, wie unglaublich schnell und steil es mit den Deutschen aufwärts gegangen war. Keiner kam auf die Idee, den Titelgewinn 1954 mit dem dritten Platz bei der WM 1938 zu vergleichen. Der alleinige Messpunkt, ausgesprochen oder nicht, hieß Mai 1945.
Endspielkommentare drehten die Zeit zurück und erinnerten an Kriegsgefangene, Vertriebene, Kohlenzüge, Trümmerberge, Hunger, Arbeitslosigkeit. Neun Jahre später war plötzlich alles ganz anders. Zum großen Sprung nach vorn in der Wirtschaft kam nun das Gefühl, auch die Überreste des internationalen Banns müssten jetzt gebrochen sein. Hocherfreut nahm man zur Kenntnis, dass in der Endphase des WM-Turniers der Name Deutschland in aller Munde war, und zwar nicht als »deutsche Schuld« oder »deutsche Frage«, sondern als Anerkennung deutscher Leistungsfähigkeit in sportlicher, mithin ganz und gar unverdächtiger Hinsicht.
Und während im deutschdemokratischen Osten die Einheitsparteipresse am Endspielsonntag auf Seite eins dem deutschen Bergmann »Glückauf« wünschte, um tags darauf festzustellen, dass sich »die Situation des westdeutschen Imperialismus«, so der Ost-Berliner Vorwärts, durch den Sieg über das volksdemokratische Ungarn um keinen Deut verbessert habe, entstand am Spätnachmittag des 4. Juli 1954 im bundesrepublikanischen Westen ein neues Gemeinschaftsgefühl. Die tüchtigen, im Aufschwung aber auch autistischen Deutschen fielen einander reihenweise in die Arme. Man hielt einen Moment lang bilanzierend inne, und feierte den neuen Anfang. Man war »wieder da«, nicht »wieder wer«.
Aber schäumte das nagelneue Selbstbewusstsein nicht gleich wieder über? Wurde nicht eine Auszeit von der Vernunft genommen? Trat man nicht den Beweis an, dass Normalpegelstände in Deutschland nicht zu haben waren? Immerhin hatten Tausende in Bern nach dem Schlusspfiff die gewohnte erste Strophe des Deutschlandliedes angestimmt, und immerhin bemühte der DFB-Präsident auf Siegesfeiern das Führerprinzip und andere Wertbestände aus 1 000 Jahren.
Doch es ging nicht mehr um Blitzkriege und ebensolche Siege; es ging um Fußball, allerdings nicht nur. Zudem erwarb sich hier die verbreitete Politikverdrossenheit ihre Verdienste. Die antipolitische Mehrheitsstimmung, die einerseits dafür sorgte, dass die Identifikation mit der jungen Republik einige Mühe machte und auf sich warten ließ, blockierte andererseits einen ungehemmten nationalistischen Aufbruch. »Nationalismus und Politik verbauen der sportlichen Kameradschaft den Weg.« Diese Botschaft Fritz Walters hätte eine solide Mehrheit in beiden deutschen Staaten unterschrieben.
Die Westdeutschen waren nicht mit dem Tagesanbruch des 9. Mai 1945 zu wetterfesten Demokraten geworden. Das Wirtschaftswunder machte es möglich, in Sachen Demokratie auf Zeit zu spielen. Das 3:2 schaffte zusätzlich Luft. Mit einer rundum erfolgreichen Republik fiel die Aussöhnung allemal leichter.
Als Weltmeister wurden die Bundesdeutschen sicher nicht westlicher, aber der Schub an Zufriedenheit tat seine Wirkung, ohne dass man gleich die Empfehlung Rudolf Augsteins in den Wind geschlagen hätte: »Es gibt Pausen auch für die tüchtigsten Völker, man muss nicht immer im ersten Glied stehen.«
Die Westbindung des Landes war damals nur mit Adenauer zu machen. Und zur Anfreundung mit der Republik trugen Fritz Walter und die Elf von Bern ein Gutteil bei. Das ist einiges mehr als die seinerzeit allenthalben beschworene »Fußballunsterblichkeit«.