26.06.2002
Europäische Nahostpolitik

Toleranz schafft Märkte

An der libanesisch-israelischen Grenze droht die Eröffnung einer zweiten Front durch die Hizbollah. Doch die EU will sich bei der ökonomischen Erschließung der Region von der Kriegsgefahr nicht stören lassen.

Richard Boucher, ein Sprecher des US-Außenministeriums, bat sogar die Feinde der USA um Hilfe. »Wir fordern alle Parteien auf, ihren Einfluss auf die Hizbollah geltend zu machen und sie dazu zu bringen, alle Angriffe auf Israel zu unterlassen«, erklärte er am Montag der vergangenen Woche. Die US-Regierung fürchtet, dass die Eröffnung einer zweiten Front an der Nordgrenze Israels sämtliche Vermittlungsbemühungen im israelisch-palästinensischen Konflikt torpedieren, möglicherweise sogar zu einem regionalen Krieg führen kann.

Seit einigen Wochen sammelt die Hizbollah Kräfte im Grenzgebiet. Nach Angaben der Washington Post verfügen die Islamisten über Raketen, die Ortschaften im Norden Israels erreichen und Flugzeuge abschießen können. Auch die Zahl iranischer Revolutionsgardisten, die in der Bekaa-Ebene Hizbollah-Kämpfer ausbilden, soll sich erhöht haben. Auf einer für Delegierte aus mehreren islamischen Staaten organisierten Besichtigungstour im Grenzgebiet erklärte Sheikh Nabil Qaouk, der Kommandant der Hizbollah im Südlibanon, die »amerikanisch-israelischen Drohungen« würden die »Operationen des Widerstands« nicht stoppen.

Die Regierungen des Libanon, Syriens und des Iran, die allesamt Einfluss auf die Hizbollah haben, scheinen nicht zu beabsichtigen, mäßigend auf die islamistische Guerilla einzuwirken. Die syrische Regierung begnügte sich damit, einmal mehr den Unterschied zwischen Terrorismus und »legitimem Widerstand« zu betonen, der libanesische Präsident Emile Lahoud bestritt die Aufrüstung der Hizbollah und sprach von einer »programmierten Kampagne« vor allem israelischer Medien gegen sein Land.

Das Regime im Iran, das die Hizbollah seit ihrer Gründung unterstützt, hat sich mit der Anfang Juni in Teheran abgehaltenen Palästina-Konferenz (Jungle World, 25/02) ohnehin an die Spitze jener Kräfte zu setzen versucht, die jeden Kompromiss mit Israel ablehnen. Vor allem islamistische Gruppen wollen die Eskalation vorantreiben. »Anstatt ein Ende der militärischen Aktionen zu fordern, sollten palästinensische Führer jetzt israelische Verbrechen verurteilen«, erklärte Abdel Aziz Rantisi, ein Sprecher der Hamas, nach den jüngsten Selbstmordanschlägen gegen israelische Zivilisten.

Häufig wird die Verzweiflung über die humanitäre Krise in den palästinensischen Gebieten, die sich durch die Aktionen der israelischen Armee verschärft hat, als Motiv für die Selbstmordattentate angeführt. Doch soziale Not kann menschenverachtenden Terror gegen Zivilisten nicht legitimieren, zudem folgt die Politik der islamistischen Führung und ihrer iranischen Unterstützer einem strategischen Kalkül. Sie begrüßen die Eskalation als Mittel, ihren politischen Einfluss auszuweiten. Palästinensischen Islamisten, aber auch vielen Nationalisten, gilt die Hizbollah als Vorbild. Sie hat in den achtziger Jahre die Taktik der Selbstmordanschläge entwickelt. Und ihren Angriffen wird der israelische Rückzug aus dem Südlibanon im Mai des Jahres 2000 zugeschrieben. Verstärkte Gewalt, so die Schlussfolgerung, könne Israel auch zum Rückzug aus dem Westjordanland und dem Gaza-Streifen zwingen.

Vom Prestige der Hizbollah will auch das iranische Regime profitieren, das seine antiisraelische Propaganda verstärkt hat. Sie wird vom neu gegründeten Radiosender Stimme Davids nun sogar täglich eine halbe Stunde lang in hebräischer Sprache verbreitet. Der Sender wird direkt vom religiösen Führer Ayatollah Ali Khamenei kontrolliert. Die Ayatollahs erhoffen sich eine Führungsrolle in der islamischen Welt. Einen Friedensschluss unter der Schirmherrschaft der USA zu verhindern, dient aber auch dem Ziel, den US-amerikanischen Einfluss im Nahen und Mittleren Osten zu schwächen.

Diese Absicht verfolgen auch manche Politiker der EU. Im Rahmen des Barcelona-Prozesses sollen die Staaten südlich und östlich des Mittelmeers in eine von der EU dominierte Freihandelszone einbezogen werden. Am Montag vergangener Woche wurde ein in den nächsten zwölf Jahren gültiges Freihandelsabkommen mit dem Libanon unterschrieben. Ähnliche Verträge existieren bereits mit Tunesien, Marokko, Israel, Jordanien, Ägypten und Algerien, mit Syrien wird noch verhandelt.

Am Tag der Unterzeichnung des Abkommens mit dem Libanon entschieden die EU-Außenminister, auch mit dem Iran über ein Handels- und Kooperationsabkommen zu sprechen. Gemeinsame Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung werden angestrebt, sollen aber keine Voraussetzung für ein Abkommen sein. Die EU ist bereits jetzt der wichtigste Handelspartner des Iran.

Das US-Außenministerium bezeichnete den Iran wegen der Unterstützung militanter Palästinenser im Mai als wichtigsten Förderer des Terrorismus. In ihrem Bemühen, sich von den USA abzusetzen, kommt die EU den Ayatollahs in dieser Frage entgegen. Anfang Mai setzte sie die bewaffnet gegen das islamistische Regime kämpfenden Volksmujaheddin auf ihre Liste terroristischer Gruppen, nicht aber die Hizbollah. Die Hizbollah als terroristische Organisation zu bezeichnen, hätte die EU dazu verpflichtet, deren Konten zu sperren und nach ihren Finanziers zu suchen. Diese Suche würde nach Teheran führen, was das dortige Regime zweifellos verärgerte. Die Entscheidung der EU ist zugleich ein politisches Zugeständnis nicht nur an den Iran, sondern auch an Syrien und den Libanon. Die Regierungen aller drei Staaten betrachten die Politik der Hizbollah nicht als Terrorismus, sondern als »legitimen Widerstand«.

Die Europäer seien verständnisvoller gegenüber arabischen Positionen, lobte Ussama Hamdan, der Hamas-Repräsentant im Libanon. Ganz zufrieden ist er aber nicht. »Wenn sie wirklich eine entscheidende Rolle in der Region spielen wollen, müssen sie sich bewusst sein, dass der palästinensische Widerstand nicht nur von Palästinensern unterstützt wird. Die arabischen Völker unterstützen ihn auch«, sagte er der libanesischen Tageszeitung Daily Star. Auf der EU-Terrorliste finden sich der palästinensische Islamische Jihad und die al-Kassem-Brigaden der Hamas - nicht aber die Organisation selbst -, Mitte Juni wurden auch die Al-Aqsa-Brigaden und die PFLP in die Liste aufgenommen. Ganz so entgegenkommend wie gegenüber dem Iran ist man hier also nicht. Um dieses Land, in dem europäische Ölkonzerne in den letzten Jahren lukrative Verträge schließen konnten, nicht zu verprellen, ist die EU auch zu einer Konfrontation mit den USA bereit. Washington betrachtet die Hizbollah wegen der Selbstmord-attentate gegen US-amerikanische Einrichtungen und der militärischen Aktionen gegen Israel als eine terroristische Organisation.

Das Bemühen der EU, sich durch die Verharmlosung islamistischer Aktivitäten einen privilegierten Zugang zu den Märkten des Nahen und Mittleren Ostens zu verschaffen, signalisiert deren Urhebern eine Akzeptanz ihrer Politik. Und das Bündnis des Iran mit der Hizbollah kombiniert das Militärpotenzial einer Regionalmacht mit der Schlagkraft einer entschlossenen Guerillatruppe. Israel dürfte auf absehbare Zeit die stärkste militärische Macht im Nahen Osten bleiben, doch gegen Selbstmordattentate und Mittelstreckenraketen gibt es kaum eine wirksame Abwehr.