Die Türkei und Europa

Hoffen auf Sold

Schadet die Krise der Türkei, weil dadurch angemahnte Reformen nicht fristgerecht durchgeführt werden können und der europäische Zug für Ankara abfährt? Oder spült der Zerfall der Koalition eine neue Garde auf die Regierungsbänke, die diese Reformen zügig angeht? Auf diese Frage spitzen sich die Kommentare der türkischen und europäischen Medien zu. Wie realistisch es um die Aussichten eines EU-Beitritts bestellt ist, und was das Land davon zu erwarten hat, wird im Unklaren gelassen.

Dabei ist die Türkei wirtschaftlich schon jetzt eng mit Union verbunden. Seit 1996 existiert eine Zollunion, die es Ankara erlaubt, Maschinen oder Computer nach Europa zu exportieren. Dumm nur, dass die Türkei, abgesehen von Textilgütern, die Industrie-Erzeugnisse, die sie zollfrei an die Europäer verkaufen könnte, gar nicht herstellt. Da die Vereinbarung in beide Richtungen gilt, exportieren die EU-Staaten ihrerseits zollfrei in die Türkei. Die Folge: Ein riesiges Handelsbilanzdefizit.

Da die Türkei - als erstes und einziges Land überhaupt - eine Zollunion mit der EU eingegangen ist, ohne ihr als Mitglied anzugehören, erhält sie keine Gelder, die die EU für strukturschwache Gebiete zahlt. Kurz: Die Zollunion ist für Ankara ein Minusgeschäft. Man genießt die Nachteile einer Mitgliedschaft ohne an deren Vorteilen zu partizipieren. Umgekehrt sind es keine wirtschaftlichen Interessen, die die Europäer mit der Anbindung der Türkei verfolgen.

Dem türkischen Establishment gilt eine EU-Mitgliedschaft als adäquater Ausdruck seines europäischen Selbstverständnisses. Für die Herrschenden aber sind, das beweisen sie seit der Republikgründung, Begriffe wie »westlich« und »modern« mit einem autoritären Staats- und Gesellschaftsmodell durchaus zu vereinbaren. Und satt macht ideologische Bestätigung allein auf Dauer auch nicht.

Vor allem oppositionelle Kreise hoffen - aus taktischem Kalkül oder mangels Alternativen -, ein EU-Beitritt könnte bürgerlich-demokratischen Standards zum Durchbruch verhelfen und das mächtige Militär zurückdrängen. Tatsächlich fordert die EU von der Armee Zurückhaltung. An einer nachhaltigen Schwächung des Militärs aber haben am allerwenigsten die Europäer ein Interesse.

Denn auf dem Gipfel von Helsinki im Dezember 1999, bei dem die Türkei als Beitrittskandidat anerkannt wurde, beschloss die EU zugleich die Gründung einer europäischen Armee. Erst vor diesem Hintergrund wird die Offerte an Ankara verständlich. Eine Union, die auch als militärische Macht operieren will, ist wegen deren geostrategischer Lage, politisch-kultureller Verfasstheit und nicht zuletzt kampferprobten Armee an der Anbindung Türkei interessiert.

Der Großteil der Bevölkerung erhofft sich, dass durch einen EU-Beitritt Visumsbestimmungen entfallen würden. Von allen frei schwebenden Hoffnungen ist dies die haltloseste. Schließlich musste Ankara schon 1987 erklären, im Falle einer Mitgliedschaft auf Freizügigkeit für seine Bürger erstmal zu verzichten.

Unter den gegebenen Bedingungen würde der Türkei als nach Deutschland bevölkerungsreichstem Land eine entsprechende Repräsentation in den EU-Gremien zustehen. Als eines der ärmsten Länder hätte sie zugleich Anspruch auf umfangreiche EU-Gelder. Deshalb erscheint ihre Aufnahme erst nach einer umfassenden Reform der EU-Strukturen überhaupt denkbar.

Der heutige Zustand der EU sowie die Verhandlungen mit den osteuropäischen Kandidaten zeigen, in welche Richtung die europäische Reise geht: Hin zu einem »Kerneuropa«, einem »Zentrum«, um das herum sich eine Reihe »konzentrischer Kreise« gruppieren und in dem das jetzige System der paritätischen Zahlungen weitgehend abgeschafft ist.

In einer solchen EU, in der die Mitglieder in unterschiedlicher Form untereinander und mit dem Zentrum verknüpft sind, ist für die Türkei vor allem ein Part vorgesehen: die des Soldaten. Sicher, diese Rolle dürften die Türken voller Inbrunst spielen. Alle anderen Hoffnungen auf Europa können sie sich abschminken. Kein Grund also, sich so aufzuregen.