Literarischer Umgang mit der NS-Zeit

Abschied vom Faselland

Haben Grass und Walser ein Monopol auf den literarischen Umgang mit der NS-Zeit? Die Antwort muss lauten: Nein.

Wie erging es den deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen? Wann ist eine Karikatur nicht mehr amüsant, sondern antisemitisch? Wie sollen die Deutschen mit der Last ihrer Vergangenheit umgehen? Welche Ursachen gibt es für diesen beisspiellosen Absturz einer modernen Industrienation in die Barbarei?

Die Generation der Autoren um die 70 beherrscht im Feuilleton und zwischen den Buchdeckeln die Debatten zur NS-Zeit und ihren Folgen, wirft Fragen auf, um sie gleich selbst zu beantworten. Hier haben wir es mit einem bedenklichen Fall von Trust-Bildung zu tun. In der letzten Dekade gelang es dem Juristen und Schriftsteller Bernhard Schlink (Jahrgang 1944), mit seinem »Vorleser« in den Olymp aufzurücken. Sein Werk fand auch in den USA große Anerkennung. Doch danach tut sich eine gähnende Leere auf.

Der einzige jüngere Autor, der von der Literaturkritik mit einem die NS-Zeit berührenden Thema wahrgenommen wurde, ist der Dresdener Marcel Beyer (Jahrgang 1965), dem mit »Flughunde« (1995) zu Recht ein großer Erfolg gelang. Der Roman erzählt die Geschichte eines Akustikers, der das Stöhnen der sterbenden Frontsoldaten minuziös aufzeichnet.

In meinem Essay möchte ich mich nun zum einen mit der Frage befassen, warum die gar nicht so spärlich gesäten Werke der Unter-40jährigen, die sich mit der NS-Thematik beschäftigen, bisher vergleichsweise wenig wahrgenommen wurden. Zum anderen soll eine Auswahl besonders interessanter Werke jüngerer Autoren kurz vorgestellt werden.

Mitten aus dem Leben

1. Jungen Autoren, die die NS-Geschichte behandeln, wird weniger Aufmerksamkeit geschenkt, weil der Unter-40jährige-Autor an sich ein Novum im Literaturbetrieb ist. Die Präsenz vieler junger, erfolgreicher Schriftsteller im Literaturbetrieb ist ein Phänomen der neunziger Jahre. Vorher wurde jeder unter 50 zum »Nachwuchs« gezählt. Mit ihrer kritischen Essaysammlung »Von Maulhelden und Königskindern. Zur Debatte über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur« (Reclam, 1998) läuteten die Herausgeber Andrea Köhler und Rainer Moritz (damals Lektor bei Reclam, Leipzig) sowie in diversen Artikeln, Essays und in öffentlichen Diskussionsforen die Lektoren Martin Hielscher und Uwe Wittstock einen neuen literarischen Zeitgeist ein.

Inspiration dazu liefertern ihnen natürlich die zahllosen Manuskripte junger Autoren, die ihnen auf die Lektorentische segelten. »Neues Erzählen« wurde zum Schlagwort. Man wollte - ein wenig am amerikanischen Vorbild orientiert - von Schriftstellern wieder »Geschichten«, Episches lesen und nicht in erster Linie selbstverliebte Reflektionen, zum Beispiel über den Sinn des Schreibens. »Metaliteratur« wurde zum Zweck der Abgrenzung nun ein Teil der sehr abstrakten, theoretischen Literatur der achtziger Jahre genannt.

So ungerecht und schubladisierend diese Kategorien sicher im Einzelnen waren, so ermöglichten sie doch vielen jüngeren Autoren, die eher mit Esprit mitten aus dem Leben schrieben als dem Spitzweg-Klischee des Dachkammereinsiedlers entsprechend die Sprache erforschen wollten, den Durchbruch.

Pop vs. Trash

2. Der »Pop-Vorwurf«: Der Erfolg wurde ihnen jedoch nicht lange vergönnt, obwohl ihnen eine riesige Leserschaft Aufmerksamkeit schenkte und sie bei ihren Auftritten, die oft in Clubs statt in tantenhafter Bibliotheksatmosphäre stattfanden, von Hundertschaften umringt waren. Nur kurze Zeit hielt der Spuk an, dann wurde im Feuilleton schon richterlich die Anklage verlesen: »Zu viel Hedonismus! Zu viel Pop!« Irgendwann fiel einigen dieser jüngeren Autoren auf, dass die für Literatur zuständigen Staatsanwälte keine Ahnung hatten, was zum Beispiel »Pop« bedeutet.

Kluge Leute wie Walter Benjamin hatten schon längst Erhellendes über die Begriffe »Aura« und »Das Auratische« geschrieben (in »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«). Ganz zu schweigen von diversen Kunsthistorikern von Clement Greenberg über Lawrence Alloway bis hin zu Barbara Rose. Aber die Feuilletonisten verwechselten ganz einfach »Pop« mit »Trash«.

In aller gebotenen Kürze hierzu: »Pop« auratisiert die Oberfläche und löst den Hintergrund ganz in der Ästhetik des Scheins auf. Pop ist konkret, optimistisch. Pop ist Candy. »Trash« wiederum ist pessimistisch, philosophisch, kommt dabei aber ohne Lexikon aus. Trash spricht zwar von der Oberfläche, der Party, den Drogen, dem trüben Nachgeschmack, zielt dabei aber eigentlich auf einen elegant ausgeklammerten Subtext, den Hintergrund. Doch dieser wird dem Leser nicht vordergründig als Psychogramm oder Porträt einer ganzen Gesellschaft offeriert wie bisweilen in der »Metaliteratur«, der Leser muss ihn selbst erspüren.

Pop ist immer Prä: Vor dem Erwachsenwerden, vor der Politik, vor der Zerstörung (der Oberfläche). Trash dagegen ist Post: Nach der Party, nach dem Morgen danach und zwischen den Residuen der Zerstörung. Die literaturbetrieblichen Staatsanwälte haben vielen jüngeren Autoren die Beschäftigung mit der Oberfläche unter dem Etikett »Pop« vorgeworfen, ohne zu verstehen, dass ihre Literatur unter dem glitzernden Deckmäntelchen der »Party« meist höchst pessimistische, gründlich recherchierte Soziogramme in einer wenig larmoyanten Sprache entwarf.

Der Vorwurf »Pop« ging sogleich einher mit dem Vorwurf »Wie unpolitisch!« - anstatt zu begreifen, dass eine andere, jüngere Generation politische Themen möglicherweise in einer anderen Sprache behandelt, dass politischer Text nicht Pamphlet bedeuten muss, und die sehr grob gestanzten Bilder der 68er auch literarisch keine Richtlinien mehr bieten. Schließlich entstand die Mär der jungen unpolitischen Autoren, denen man die Beschäftigung mit dem Vermächtnis des Nationalsozialismus schon gar nicht zutraute.

»Unerhört«

3. Ein so sensibles Thema wie den literarischen Umgang mit der NS-Zeit möchte man ungerne »abgeben«. Vielleicht ist die Angst zu groß, dass jüngere Autoren nicht mit dem gebührenden Respekt an dieses Thema herangehen werden, wie die bisherigen Monopolisten sich das wünschen.

Auch der Kölner Autor Leander Scholz (Jahrgang 1969) traf mit seiner literarischen Verarbeitung eines weiteren sensiblen politischen Themas auf Ressentiments im Literaturbetrieb: Mit »Rosenfest« (2001) schrieb er einen Roman, der sich mit der Geschichte der RAF beschäftigt. Aber er tat dabei etwas ganz »Unerhörtes«. Er schrieb die Geschichte um, dachte sich etwas Neues aus, verschmolz die klar abgegrenzten Gebiete Historie und Fiktion. Und das wurde ihm im Feuilleton sehr übel genommen.

Die Trustbildung von G & W

4. Meine vierte Überlegung zur mangelnden Rezeption der auf die NS-Zeit zielenden Romane jüngerer Autoren heißt: »Wie machen Medien Politik?« Eine mir gut bekannte, erfolgreiche, 40jährige Autorin schrieb einen gründlich recherchierten, recht provokativen Artikel zur Walser-Schirrmacher-Debatte und schickte ihn an mehrere große Zeitungen. Alle lehnten ab. Wenige Tage später stand in einem dieser Blätter: »Niemand der jungen Autoren scheint sich für diese Thematik zu interessieren.«

Manch jüngerer Schriftsteller wie der Berliner Thomas Lehr erntet sehr wohl positive Resonanz für sein literatisches Schaffen, wird aber fälschlicherweise als Einzelphänomen verstanden. Dass sich die so genannte Enkelgeneration vielstimmig mit der politischen Gegenwart und Vergangenheit dieses Landes auseinandersetzt - und oft hierbei zu anderen Ergebnissen kommt als Grass & Walser (im folgenden G&W) - wird nicht wahrgenommen.

Es wird also Zeit, dass sich die jüngeren Autoren einen Zugriff auf Themen erlauben, die bisher nur dem selbst ernannten Olymp gestattet waren - und nicht in der ihnen zugewiesenen literarischen Kuschelpartyecke vermodern. Nicht der harmlose Ranicki ist hier Feindbild, sondern die Literaten, Kritiker und Lektoren, die an dieser heimlichen Trustbildung von G&W die Verantwortung tragen.

Keine Popliteratur

Im Folgenden sollen kurz und exemplarisch drei bemerkenswerte Romane (bzw. eine Novelle) jüngerer Autoren vorgestellt werden, die sich mit dem genannten Thema beschäftigen und die in diesem oder im letzten Jahr publiziert wurden:

Thomas Lehrs Novelle »Frühling« (2001) beginnt mit Kapitel 39; diese rückläufige Bewegung steht in Übereinstimmung zu den letzten 39 Lebenssekunden des Pharmokologen Christian Rauch. In einer stakkatohaften, expressionistischen Sprache der Verzweiflung geraten Groß- und Kleinschreibung, Zeichensetzung und Satzgefüge immer stärker durcheinander, je näher die Kapitel seinem Tod rücken. Wie hier für die psychophyschische Auflösung eines Menschen eine kongruente Sprache gefunden wurde, ist meisterlich. Die Geschichte, die sich der Leser aus den Gedanken des Selbstmörders zusammenbastelt, ist folgende: Als der Arztsohn Christian elf Jahre alt war, stand plötzlich ein fremder Mann im elterlichen Garten und rief: »Apell, Herr Doktor, Apell!« Dann zieht er sich aus und legt seine Kleidung auf die Kühlerhaube von Papas Nachkriegsmercedes. Christian ist zu klein, um die Bedeutung der Sätze zu begreifen, aber sein älterer Bruder Robert spricht mit dem Fremden. Wenig später wird der Mann von der Polizei als »Exhibitionist« verhaftet.

Robert vertieft sich in die Geschichte seines Vaters und springt drei Jahre später vor einen Zug. Christian ist dagegen immer »weggelaufen«, von seinen Eltern, seinem Heimatstädtchen - nicht einmal zur Beerdigung seiner Mutter kehrt er zurück. Er heiratet eine »flotte Kleinunternehmerin«, der er nie von der Täterschaft seines Vaters erzählt. Doch schließlich, als 50jähriger Mann, begegnet er der Hure Gucia und erfährt, dass ihre Mutter von seinem Vater für Kälteexperimente missbraucht wurde. Genauer: Sie war eine der Huren, die von Nazis zur »Reanimation« durch Kopulation von durch Kälteexperimente Gequälter verwendet wurden - eine Idee Himmlers. Über 30 Jahre nach dem Selbstmord seines damals 17jährigen Bruders bringt Christian Rauch sich aus gleicher Motivik um.

Poetischer Krimi

Jörg Bernigs Roman »Niemandszeit« (2002) führt den Leser an den äußersten Rand der Tschechoslowakei im Jahr 1946. Hier befindet sich ein kleiner verlassener Ort, der namenlos bleibt und in den es Flüchtlinge verschiedener Herkunft verschlägt. Da gibt es die Tochter des nazideutschen Angestellten in der »Ansiedlungsgesellschaft«, die die Tschechen enteignen und ins Landesinnere vertreiben ließ. Dort finden aber auch zwei Deserteure der Revolutionsgardisten, die die Deutschen nach dem Kriegsende aus ihren Häusern warfen, Unterschlupf.

An diesem Ort, der ein wenig außerhalb der Zeit lokalisiert zu sein scheint, unterstützen sich die Flüchtlinge gegenseitig, im gemeinsamen Interesse, nicht gefunden zu werden. Liebschaften bilden sich, eine kleine, bunt zusammengewürfelte Großfamilie entsteht. Doch nicht nur »der Wachmeister« mit seinem Revolutionsgardisten, dem die Deserteure Mrha und Lípa entkommen sind, wird durch ein Versehen auf den verlassenen Ort aufmerksam gemacht, auch »der Jäger« ist ihnen auf der Spur. Allerdings aus ganz anderen Motiven. Er, ein Tscheche, hat sich als junger Mann in Theres verliebt, die Tochter des Ansiedlungsbeamten aus Zeiten, als die Tschechoslowakei noch ein Vielvölkerstaat war. Doch ihre kurze Beziehung findet ein jähes Ende, als Tomás plötzlich zum Arbeiten unter Tage ins »Reich« verschleppt wird: auf Bemühungen von Theres' Vater.

Nun hat Tomás die Revolutionsgardisten verlassen, um Theres zu suchen. Und er findet sie: im gleichen Augenblick wie die Revolutionsgardisten, die nach ihrem Leben trachten. Auch dieser Roman endet mit einem tödlichen Schuss, der einem Selbstmord gleichkommt: Tomás erschießt seine Jugendliebe, damit ihr das Leid von Verschleppung und Misshandlung erspart bleibt.

Bernig gelingt es, einen poetischen Krimi zu schreiben, der deutlich macht - trotz einer gewissen Gefahr des Geschichtsrelativismus -, dass sich Opfer und Täter nicht immer an Armbinde oder Uniform erkennen lassen und sich in jeder Gruppe Individuen finden.

Der »Getreue Eckart«

In »Der Morphinist oder Die Barbarin bin ich« (2002) setzt sich Tanja Langer zum einen mit ihren Eltern auseinander, die als Kinder in der NS-Zeit aufwuchsen, zum anderen beschäftigt sie sich mit dem Mann, den die Nazis zum Helden für die Jugend stilisierten: dem »Getreuen Eckart«. Dietrich Eckart war Bohemien, Morphinist (was von den Nazis natürlich heruntergespielt wurde), Publizist, Dramatiker (»miserables, blutrünstiges, schwülstiges Zeug«, Erika Mann) und vor allem ein schwärmerischer Dichter, der den extremen Antisemitismus und Germanenkult schon sehr früh in Worte fasste.

Hitler hat Eckart, der 1923 kurz nach dem Marsch auf die Feldherrenhalle in München starb, sehr viel zu verdanken. Der alte Herr, der Hitler wie seinen Sohn behandelte, führte ihn in die ersten Kreise in München ein, er machte ihn mit dem Hause Wagner bekannt, sprach auf NSDAP-Veranstaltungen im Hofbräufestsaal und bei der großen Sonnenwendfeier in Haidhausen, spazierte mit ihm zum Obersalzberg und trieb Geld auf, um 1920 aus dem Münchener Beobachter den Völkischen Beobachter zu machen. Hitler bedauerte es sehr, dass Eckart den Aufstieg der Partei nicht mehr miterleben konnte.

Langer mischt geschickt Privates mit Historischem, vergleicht die Gegenwart mit der Vergangenheit, macht deutlich, wie fließend die Grenzen zwischen beiden sind. Immer wieder findet sie in beiläufigen Bemerkungen ihrer Eltern Spuren aus dem Gedankengut Eckarts. Doch meistens quält sich die Tochter mit dem Schweigen der Eltern, das sie in ihrem Roman zu deuten sucht.

Darüberhinaus ist Tanja Langers anekdotenhaft gehaltener Roman eine üppige Fundgrube an interessanten zeit- und kulturgeschichtlichen Details. Man findet Zitate, wie zum Beispiel jenes denkwürdige aus dem Jahr 1917 von Max Reinhardt: »Der Heldentod hat sich überlebt.«