Zum Tod von Frieda Grafe

Ein letztes Geschenk

Wie keine andere prägte Frieda Grafe das Schreiben über den Film in Deutschland. Ein Nachruf

Frieda Grafe ist tot. Sie war eine gepriesene Filmessayistin und auch wenn man nicht übertreiben will: Deutschlands größte. Ihr letztes Buch ist soeben erschienen: »Filmfarben«. Eine schöne und exemplarische Publikation. Dem, der sie betrachtet, erschließen sich Filme nochmals, die man längst einsortiert und abgehakt glaubte.

Frieda Grafe ließ sich nichts vorschreiben. Sie dachte vor. Sie hatte ein Gespür für das, was virulent war und vital. Im Guten wie im Schlechten. Deswegen gehört zum »Betrachten« auch der Blick auf ihre Texte. Nicht um zu übernehmen, sondern um zu erfassen. In den 122 Filmkritiken, die sie seit 1962 in der legendären Zeitschrift Filmkritik schrieb (und dann später in der Zeit und in der Süddeutschen Zeitung) machte sie es vor. Sie hatte eine eigene Sprache entwickelt, in der Theorie, Literatur, Film, Analyse, Alltag, Frausein und Erfahrung ein- und aufgingen. Was sie schrieb, war genau, auch persönlich und nicht zu widerlegen. Wie auch sollte man einen Menschen widerlegen können?

Sie war eine Intellektuelle. Aber mit dem Wort tut man ihr unrecht. Es erledigt. Es öffnet weder Potenziale, noch Latenzen, noch persönliche Erwartungen. Sie war eine Frau mit großer Ausstrahlung. 1962, in München, war sie 27 Jahre alt, heiratete Enno Patalas, den Primus der Filmkritik (und späteren Direktor des Münchner Filmmuseums) und wurde Vordenkerin der gleichaltrigen Mitarbeiter.

Sie war frisch von der Sorbonne gekommen, aus dem Lingustikstudium, und schrieb in Deutschland an was anderem, über das Frühwerk Heinrich Manns. Sie konnte das vereinbaren. Sie konnte gut kochen. Sie konnte mit dem umgehen, was um sie herum war. Man könnte die Behauptung wagen, dass sie mitten in den sechziger Jahren und mitten in ihren Zwanzigern einen Salon führte, wo niemand einen Salon vermutet hätte.

In die Wiege gelegt war ihr das nicht. In Mülheim an der Möhne am 20. August 1934 geboren, wurde sie katholisch und kleinbürgerlich erzogen. Das Studium der Germanistik, Romanistik und Philosophie in München, Paris und Münster führte zu ihrem »stärksten Bildungserlebnis: die Erfahrung der Universitäten als bedeutendste Brutstätte patriarchalischen Denkens«. Sie gab ihre Dissertation auf, gebar ein Kind, Igor, und wurde ihre eigene Universität. Igor gehörte zum Grafe-Universum in der Ainmillerstraße, dem Sitz der Filmkritik.

Sie brachte uns, die wir für die Zeitschrift schrieben, dazu, über unser Selbstverständnis nachzudenken. Es gab Fraktionen. Die sich befehdeten. Aber nicht spalteten. Alles blieb im Salon. In der Filmkritik. Auch wenn sie die »ästhetische Linke« propagierte. Die Diskussion wurde exemplarisch. Der WDR übertrug sie. Wir saßen am runden Tisch.

Ich schlage gerade für die Jungle World das Oktoberheft auf. 1966. Zettel quellen aus den Seiten. Ich hatte Anmerkungen gemacht. Wütende Ausrufezeichen. Wenn ich jetzt Grafes Text wieder lese, merke ich, dass ich seit einiger Zeit, sagen wir seit zehn Jahren, nah bei dem bin, was Frieda dachte, bloß 30 Jahre später.

Sie hatte über Godard geschrieben, über Rohmer, Varda, Straub, Rivette und Kluge. »Nun gibt es Filme«, schrieb sie in ihrem Manifest, »in die ungeformte Teile der Realität eingelassen werden. Die Position des Kritikers und des Zuschauers vor ihnen unterscheidet sich nicht wesentlich von der des Regisseurs, der sie aufnimmt. Vor unseren Augen organisieren sich Dinge unabhängig von dem, was wir denken können. Erst in diesen Filmen findet die Vermittlung ihren adäquaten Ausdruck, die in früheren Filmen verharmlost gezeigt wurde, weil es gedachte und folglich verharmloste Vermittlung war. Vor den neuen Filmen geht es darum, noch ungedachte Realität zu denken. Dem Kritiker fällt es zu, erste sprachliche Formulierungen dafür zu finden. Kein noch so gut organisierter wissenschaftlicher Apparat könnte ihn denken. Die Sprache ist erst recht nicht der rationale Verbünde-te, auf den man bauen könnte, um Ordnung zu instituieren. Sie dominiert den Schreibenden in ähnlicher Weise wie das Ungedachte, das er mit ihrer Hilfe in Reflektiertes zu verwandeln versucht.«

Es war die Zeit des Strukturalismus. 1967. Und das Jahr 1968 bahnte sich an. Die Studentenbewegung. Deren Teil hatten wir im Geist Adornos, des Propheten der frühen Filmkritik, sein wollen. Frieda Grafe sah eine andere Revolution voraus, eine ästhetische. Eine formalistische, sagten die Studenten, die auf dem legendären Experimentalfestvial in Knokke Ende 1967 aktiv geworden waren. Dort waren zum erstenmal Avantgardefilme des New American Cinema gelaufen, denen Politisches nicht recht abzugewinnen war. Aber es drang auch zum erstenmal ins Filmbewusstsein, dass es eine gegenwärtige Welt außerhalb Westeuropas gab.

Das Manifest der »New American Cinema Group« wurde mit sieben Jahren Verspätung in Knokke vorgestellt. Es schloss mit den Sätzen: »Wir sind nicht nur für das Kino: Wir sind auch für den neuen Menschen. Wir sind für die Kunst, aber nicht auf Kosten des Lebens. Wir wollen keine falschen, glatten, geleckten Filme - wir wollen sie lieber rauh, ungeglättet, dafür aber lebendig.« Diese Filme, das neue Kino von Knokke, zu rechtfertigen, unternahm Frieda Grafe mit den Mitteln der neuen Linguistik. »Wie sehr deren Entdeckungen unser Leben verändert haben«, schrieb sie im Februar 1968, »scheint nur sehr langsam ins öffentliche Bewusstsein zu dringen.«

Sie berief sich auf den russischen Kybernetiker Sebastian Saumjan, der die-se Entdeckungen unlängst »eine wirkliche Revolution« genannt hatte. Dagegen könne man sich das Kino, das die »progressiven Studenten, die in Knokke lautstark gegen den Formalismus des Festivals demonstrierten, gar nicht konventionell genug vorstellen. Ihre Indignation ist bequem. Besonderer Anstrengung des Gedankens, auf die sie doch gerade pochen, bedarf sie nicht. Mich ließ sie an die berühmte Bemerkung Adornos denken, derzufolge es nach Auschwitz nicht mehr möglich sein sollte, Gedichte zu schreiben. Da wusste auch jeder, was gemeint war, es klang gut, nur stimmte es einfach nicht.«

Das war Frieda Grafes Revolution im Jahr 1968. Frieda habe ich zuletzt weni-ge Jahre vor ihrem Tod besucht. Für ein paar Tage schlief ich in ihrem Arbeitszimmer. Bücher stapelten sich. Sie übersetzte Texte aus dem Französischen. Balzac hatte sie ins Deutsche übertragen. Es war noch viel zu tun.

In der Küche, auf dem Frühstückstisch, warteten die ersten Manuskripte. Ich war ganz in ihrer Welt. Die Ausstrahlung war greifbar. Am letzten Tag entschuldigte sie sich dafür, dass sie schon vor dem ersten Frühstück weg müsse. Zur Bestrahlung. Ich hatte nicht gewusst, dass sie krank war. Mir drang ins Bewusstsein, dass mein Besuch unerlaubt war. Aber er war ein Geschenk. Von Frieda Grafe.