»Gesammelte Texte« von Inge Müller

Mythos werden ist nicht schwer

Nach ihrem Tod sorgte nicht zuletzt ihr Ehemann Heiner Müller dafür, dass Inge Müller immer in seinem Schatten stand. Eine Ausgabe mit »Gesammelten Texten« und eine Biografie sollen das nun ändern.

Wenn beinahe gleichzeitig »Gesammelte Texte« und die Biografie einer Autorin erscheinen, kann man davon ausgehen, dass es sich um eine bekannte Autorin handelt. Doch im Falle Inge Müllers ist das anders. Sonja Hilzinger, die Herausgeberin der mit über 650 Seiten nicht eben schmal gehaltenen Textsammlung, spricht gar von der »Verschüttung ihrer Autorschaft«.

Inge Müller war und ist als die Gattin des ostdeutschen Großdramatikers Heiner Müller bekannt, sie gilt als Mitarbeiterin an einigen seiner Stücke, doch vor allem ist sie die Selbstmörderin, die »Frau mit dem Kopf im Gasherd«, die Müller u.a. in »Todesanzeige«, seinem wohl bekanntesten Prosastück, beschrieb. Er, der ewig vom Geschlechterkampf Zehrende, beschreibt darin, wie er die Tote fand. Müller hatte seine Gattin immerhin unzählige Male gerettet, wenn sie mit Gas, Tabletten oder Quecksilber ihrem Leben ein Ende machen wollte.

Doch Heiner Müller ist auch schuld am Verschwinden der Autorin Inge Müller. In seiner Autobiografie heißt es: »Dann habe ich das Ding geschrieben, und da sie an der Vorbereitung beteiligt gewesen war, im Grunde mehr als ich, ich brauchte wenig Material, habe ich sie als Mitarbeiterin genannt. Der Hacks sagte mir damals, dass das ein schwerer Fehler gewesen sei, und das stimmt, das hätte ich nicht tun sollen, es entsprach nicht den Tatsachen. Andererseits: was ist denn ein Autor?«

Müller kümmerte sich bald nicht mehr um das Werk seiner verstorbenen Gattin; er steuerte ein kurzes Vorwort zu einer Gedicht-Ausgabe bei, er bearbeitete eines ihrer Hörspiele. Doch Müller log - der, der scheinbar so locker mit Autorschaft umging, strich Inge Müller, die zu ihren Lebzeiten als gleichberechtigte Autorin der Stücke »Der Lohndrücker« und »Die Korrektur« galt, bald von den Titelblättern. Auch den Heinrich-Mann-Preis, den beide 1959 erhielten, sah er als Preis für sich und seine »Mitarbeiterin« an. Erst im Nachlass der Müllers, der seit kurzem in Inges und Heiners Arbeiten unterteilt wird, lässt sich nachweisen, wie intensiv Inge Müller auch an der Ausarbeitung der gemeinsamen Stücke beteiligt war.

Inge Müller wurde 1925 in Berlin geboren, zum Ende des Krieges wurde sie Luftwaffenhelferin, nach einem Bombenangriff auf Berlin war sie drei Tage lang verschüttet. Ihre Eltern, die bei einem Luftangriff auf Berlin-Lichtenberg starben, grub sie aus den Trümmern frei. Nach dem Kriegsende war sie Sekretärin, Trümmerfrau, Arbeiterin und Journalistin.

Von 1951 bis 1959 lebte sie in Lehnitz bei Oranienburg, dann wieder in Berlin. Sie schrieb Kinderbücher und Texte für Kinderrevuen im Friedrichstadtpalast. 1953 lernte sie Heiner Müller kennen, der 1955 ihr dritter Ehemann wurde. Sie arbeiteten zusammen an mehreren Stücken, sie schrieb Hörspiele und Texte fürs Theater. Ihre Bearbeitung von Viktor Rosows Stück »Auf dem Wege«, die 1964 uraufgeführt wurde, war ein Riesenerfolg. Sie erhielt weitere Aufträge für Stücke und Stückbearbeitungen. Am 1. Juni 1966 brachte sich Inge Müller um.

Zum Zeitpunkt ihres Todes ist sie eine erfolgreiche Dramatikerin, der Aufbau Verlag überlegt, ob er eine Auswahl ihrer Gedichte herausgibt, sie verkehrt mit Peter Hacks, Richard Leising, Wolf Biermann und anderen Vertretern der DDR-Intelligenz. Andererseits leidet sie darunter, dass Heiner Müller 1961 aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen wurde, und auch ihre Werke unter den Verdacht der »konterrevolutionären Gesinnung« fallen könnten. Ihre Beziehung mit dem jüngeren Bruder Heiner Müllers, Wolfgang, scheitert, zudem häufen sich ihre psychischen Krisen.

Die meisten lyrischen Texte kreisen um das Thema Krieg und Tod. »Als ich Wasser holte fiel ein Haus auf mich/ Wir haben das Haus getragen/ Der vergessene Hund und ich./ Fragt mich nicht wie/ Ich erinnere mich nicht./ Fragt den Hund wie«, heißt es in dem Gedicht »Unterm Schutt III«. Auch das Romanfragment »Ich Jona«, das nun zum ersten Mal vollständig vorliegt, handelt von geraubter Kindheit und Jugend. »Ein kleiner Junge fällt ins Wasser, ein elfjähriges Mädchen rettet ihn vorm Ertrinken und kriegt von der Mutter Prügel, als es mit nassen Kleidern heimkommt.«

Der Großteil ihrer Lyrik und ihre Prosatexte sind zum Zeitpunkt ihres Todes noch nicht ausgereift, die Formexperimente in »Ich Jona« und vielen Gedichten lassen allerdings ahnen, was aus diesen Texten hätte werden können. In ihren (Hör-) Stücken befasst sich Inge Müller mit der Gegenwart in der DDR. Sie war vor allem eine Dramatikerin. Als solche wurde sie mehrfach geehrt.

Doch ihre Stücke sind, nicht nur wegen Heiner Müller, so gut wie vergessen. Nun gilt Inge Müller als Lyrikerin. Denn die Gedichte lassen sich autobiografisch lesen, und Ines Geipel lässt sich in der von ihr herausgegebenen Biografie Inge Müllers »Dann fiel auf einmal der Himmel um« sogar dazu verleiten, diese Texte als Quasi-Tagebucheinträge zu deuten.

Mit dieser Lesart zerstört man die Autorin Inge Müller zunächst, um sie dann wieder neu aufzubauen. Jetzt ist Inge Müller, wie Geipel es nennt, ein »Mythos«. Schon 1985, als Richard Pietraß ihre Gedichte unter dem Titel »Wenn ich schon sterben muss« herausgab, überwog diese Lesart. Während Heiner Müller im Geleitwort schrieb, Inge Müllers Texte seien »Dokumente eines tapferen Lebens, gegen das ihr Tod nichts beweist«, wurde sie, ganz im Sinne der neuen Gefühlsromantik in der DDR, im Nachwort als »Gezeichnete« dargestellt und eine autobiografische Lesart vorgeschlagen. Damals schon mischte man ganz ungeniert Entwürfe aus dem Nachlass mit jenen Texten, die Müller selbst noch zur Veröffentlichung vorbereitet hatte. Formschludereien und schräge Bilder galten als Entäußerungen von Gefühl.

Diese Editionspraxis ist auch bei der jetzt erschienenen Textsammlung beibehalten worden, die Herausgeberin verweist lediglich im Anhang auf den Manuskriptcharakter. So bietet das Buch ein literarisches Sammelsurium, einzig das Hörspiel »Die Weiberbrigade« und die Rosow-Bearbeitung können als Werkblock überzeugen. Auf den Abdruck der gemeinsam mit Heiner Müller verfassten Stücke wurde verzichtet, und auch Inge Müllers Kinderbücher fehlen.

Wohl auch wegen einer solchen Editionspraxis schreibt die Neue Zürcher Zeitung: »Inge Müllers Lyrik schwankt zwischen ästhetischer Sorglosigkeit, bewusstem Stilbruch, der Überzeichnungen und Worthülsen hervorbringt, und einer beeindruckenden Kraft der Aussparung. (...) Es ist nicht einfach, sich in dieser Sammlung zurechtzufinden. Wer Inge Müller besser verstehen will, ist - die biografische Hilfestellung sei in diesem Fall ausdrücklich empfohlen - auf Ines Geipels Biografie angewiesen.«

Gerade diese Biografie jedoch erlaubt sich einiges. Da die Faktenlage dünn ist, wählt Geipel die Assoziation, sie schildert, wie Müller sich gefühlt hat, beschreibt innere Konflikte in erlebter Rede und formt sich ihr Objekt auch sonst ganz nach ihrem Gusto. So wird Inge Müller, die ihrem Gatten Unreife vorwarf und in ihren Gedichten und Stücken die DDR lobte, im Nachhinein zu einem Opfer der DDR.

Dabei eröffneten gerade das »Ende der klassischen Autorschaft« und die Kollektivarbeit, wie sie der Sozialismus anbot, vielen Frauen den Weg zur Autorschaft. Inge Müller betrachtete ihre Texte als Kunst und sich als »weiblichen Autor«, gemäß der damaligen DDR-Kunstauffassung. Nun aber wird ihr Leben und Leiden gegen diese Kunst ausgespielt. Und auch die Kommunistin wird verworfen. Müller wird nach ihrem Tod ganz zu dem gemacht, was ein bürgerlich-romantischer Literaturbetrieb von einer Frau erwartet: eine Seele, ein »Mythos«.

Inge Müller ergeht es so wie Ingeborg Bachmann, Gisela Elsner oder Virgina Woolf, deren Werk nach dem Tod neu gelesen und bewertet wurde. Diese Künstlerinnen wurden durch den Literaturbetrieb zu dem, was der Literaturbetrieb für weiblich zu halten gewohnt ist. Im schlimmsten Fall führte diese Neubewertung dazu, dass ihre Literatur nur noch als Dokument gelesen wird, ihre Kunst nur noch zum Material für BiografInnen taugt. Die Buchtitel machen auf intim, die Umschläge werden plötzlich pastellfarben. Im Falle Inge Müller ist das so, obschon der Verlag und die Herausgeberin zumindest halbherzig versuchten, dem mit einer gut gemachten Werkausgabe entgegenzutreten. Doch sie konnten sich offensichtlich schon nicht mehr gegen den »Mythos« wehren.

Inge Müller: Dass ich nicht ersticke am Leisesein. Herausgegeben von Sonja Hilzinger. Aufbau Verlag, Berlin 2002. 660 S., 29,90 Euro

Inge Müller: Wenn ich schon sterben muss. Aufbau Verlag, Berlin 1997. 134 S., 7,50 Euro

Ines Geipel: Dann fiel auf einmal der Himmel um. Henschel Verlag, Berlin 2002. 256 S., 19,90 Euro