Diskriminierung von Behinderten

Einfache Lösungen

In Rumänien sind Menschen mit Behinderungen weiterhin ein Luxus, den sich niemand leisten will.

Laszlo Moldovan wird in diesem Monat 26 Jahre alt, das ist ein hohes Alter für jemanden, der seine Kindheit in einer rumänischen Verwahranstalt verbracht hat. Von seinen Eltern verlassen, wuchs der geistig Behinderte in einem Heim in der Stadt Cighid auf. Sich selbst überlassen, vegetierten die Insassen dort bis zu ihrem Tod vor sich hin. In jedem der 41 rumänischen Distrikte gab es bis 1989 diese Todesheime. In ihnen wurden die so genannten Irecuperabili, die »nicht Reparierbaren«, untergebracht. »Wir hatten Metallbetten«, wiederholt Moldovan immer wieder die einzige Erinnerung an die damalige Zeit, die er äußern kann.

Sein Heim ist mittlerweile zum Vorzeigeobjekt in der Region Bihor geworden. Es wurde von internationalen Hilfsorganisationen aufwändig saniert und mit Personal ausgestattet, das über eine pädagogische Qualifikation verfügt. Die Überlebenden aus der Anstalt wohnen heute entweder in dem erneuerten Gebäude oder in Familienhäusern in der Stadt Oradea. Dort werden sie mit Unterstützung der Rumänienhilfe Alsterdorf im Familienhaus Casa Max auf ein selbständiges Leben vorbereitet.

Viele ehemalige Bewohner anderer Todesheime haben nicht so viel Glück. Das Verhalten gegenüber Menschen mit Behinderungen hat sich in Rumänien noch nicht grundsätzlich verändert. So bezeichnet Mindra Achimut, die Leiterin einer Wohngruppe mit psychisch kranken und geistig behinderten Menschen in Nucet, ihre Heimbewohner nach wie vor als »oligophren« (schwachsinnig). Interviews »mit diesen armen Geschöpfen« seien nicht möglich, erklärt sie.

Die Täter in den Kinderheimen und der Psychiatrie sind bislang nicht zur Rechenschaft gezogen worden. Internationale Hilfsorganisationen sind nach wie vor auf die Zusammenarbeit mit ehemaligen Tätern angewiesen. »Unsere Zusammenarbeit ist vorbehaltlos, aber nicht bedingungslos«, fasst der Psychologe Michael Wunder von der Rumänienhilfe Alsterdorf die Prinzipien seiner Arbeit zusammen.

Die Verbrechen der achtziger Jahre werden teilweise nicht einmal von den heutigen Mitarbeitern als solche angesehen. Emil Coc, der Heimvater eines Familienhauses, versteht den Ruf nach juristischer Aufarbeitung nicht. »Man kann die damaligen Ärzte und Pflegerinnen nicht anklagen, sie haben doch auf Befehl von oben gehandelt.«

Nach 1989 lösten Berichte über die Zustände in den Heimen Entsetzen in Europa aus, die EU intervenierte. Als der Sonderbeauftragte Günter Verheugen vor drei Jahren forderte, dass Rumänien, als Bedingung für die Aufnahme in die Union, seine Kinderheimprobleme in den Griff bekommen müsse, sahen sich die rumänischen Behörden gezwungen zu handeln; schließlich ist die Aufnahme in die Nato und die EU das höchste Staatsziel.

Die Regierung in Bukarest richtete daher eine nationale Agentur für den Schutz der Kinderrechte und das Inspektorat für Behinderte ein. Für alle behinderten Kinder unter 18 Jahre ist nun das Kinderschutzamt zuständig, für die über 18jährigen Menschen mit Behinderungen entweder das Inspektorat oder aber die Gesundheitsbehörden. Wer welchem Amt nach welchen Kriterien zugeteilt wird, ist unklar. Cecilia Barbu vom nationalen Kinderschutzamt in Bukarest beschreibt die Zuständigkeiten mit den Worten, »die Institution definiert den Menschen«.

Dass das aber nicht unbedingt im Interesse der Klienten ist, zeigt sich in dem Dorf Bratca in Westrumänien. Dort gab es bis zum Juli 2000 ein Kinderheim mit 80 Kindern, das von terre des hommes komplett neu gebaut worden war. Nach der Intervention Verheugens folgten die rumänischen Behörden der Forderung, die Kinderheime zu verkleinern, auf ihre Weise. Sie teilten das aus drei Gebäuden bestehende Kinderheim in zwei Bereiche, trennten diese durch einen Maschendrahtzaun und richteten in einem der Bereiche eine Psychiatrische Abteilung ein. Die über 18jährigen Heimbewohner wurden nun in der neu entstandenen Psychiatrie angesiedelt - egal, ob sie geistig behindert oder psychisch krank sind.

Dort leben bis heute die 25 verwahrlost wirkenden geistig Behinderten ohne adäquate Behandlung und pädagogisches Programm vor sich hin. Betreut werden sie von Reinigungsfrauen aus dem Dorf und einem Krankenpfleger. Im Winter drängen sie sich in einem 18 Quadratmeter großen Raum zusammen. Die Schlafräume dürfen tagsüber nicht betreten werden, so hat es die Gesundheitspolizei vorgeschrieben.

Den rumänischen Behörden ist es vor allem wichtig, die über 18jährigen Heimbewohner aus den Statistiken der Kinderheime zu entfernen. »Hier geschieht ein großes Unrecht an diesen jungen Menschen. Sie sind geistig behindert und nicht psychisch krank - sie gehören nicht in eine Psychiatrie«, meint Wunder.

Aber die Auflagen Verheugens wurden erfüllt. Die Zahl der im Kinderheim Untergebrachten senkte man durch die Trennung von 80 auf 50. Auf der zweiten Regionalen Kinderschutzkonferenz Ende Juni in Oradea wurde diese Praxis öffentlich angeprangert. Es gebe kein Konzept für die Unterbringung der über 18jährigen mit geistiger Behinderung, erklärt Luminita Bac, eine der Sprecherinnen.

Verschlimmert werde die Situation zudem durch die weiterhin hohen Zahlen an verlassenen Kindern. Allein im Kreis Bihor, in dem etwa 600 000 Menschen leben, wohnen in diesem Jahr über 1 600 Kinder außerhalb der Familie in Heimen und Familienhäusern. Genaue Zahlen existieren nicht. Im Kreiskrankenhaus Oradea warten darüber hinaus noch 40 verlassene Neugeborene auf einen Platz außerhalb des Krankenhauses.

In ganz Rumänien sind in den ersten sechs Monaten diesen Jahres 2 000 Neugeborene gleich nach der Geburt in den Krankenhäusern verlassen worden, meldete das rumänische Fernsehen Ende Juli. Das sind doppelt so viele wie im gleichen Zeitraum des vergangenen Jahres. Als Grund für diese Entwicklung wurde die wachsende Armut genannt.