Zum 200. Geburtstag von Nikolaus Lenau

Pursuit of Unhappiness

Einiges über Nikolaus Lenaus Amerikahass.

Wer die USA für eine Wüste hält, gilt als geistreich und kommt in Sigrid Löfflers Magazin. Dabei erweist gerade das antiamerikanische Ressentiment die Borniertheit der Intelligenzija von Brecht (»Die Wohntürme von Manhattan in der Dämmerung sind atemberaubend, aber sie können keine Brust schwellen ... Überall ist dieser Geruch der hoffnungslosen Roheit, der Gewalt ohne Befriedigung« usw.) bis Baudrillard (»Es gibt eine Art Wunder in der Fadheit der künstlichen Paradiese, gesetzt, sie erreichen die Ausmaße einer ganzen (Un-) Kultur. In Amerika verleiht der Raum noch der Fadheit der suburbs und funky towns Weite. Die Wüste ist überall und verbirgt die Unbedeutendheit« usw.). Gibt es sich auch stets originell, hat es doch einen längeren Bart als der Weihnachtsmann von Coca-Cola.

Im Juli 1832 schifft sich der österreichische Dichter Nikolaus Lenau, dessen 200. Geburtstag das Feuilleton in diesen Tagen begeht, nach Amerika ein. Er erwartet »göttliche Auftritte« in der nordamerikanischen Natur, hofft, auf bequeme Weise reich zu werden, und schlägt die Empfehlungen seiner Freunde aus der schwäbischen Dichterschule in den Wind, sich lieber »ein kleines Gütchen bei Stuttgart« zu kaufen und, weil das Glück ein Weib sei, »Lotten zur Frau« zu nehmen. Selbst Justinus Kerner, der in Lenaus Vorhaben nichts als die »fixe Idee, er müsse in den Urwäldern Amerikas zu einem Affen werden«, erkennt, kann ihn nicht im Ländle halten.

Doch genau im selben Augenblick, in dem der Dichter amerikanischen Boden betritt, hasst er Amerika und die Amerikaner auch schon mit einer Inbrunst, die Brecht und Baudrillard blass und ihre Originalität sehr alt aussehen lässt. »Wegen Untiefe konnten wir nicht bis ans Ufer fahren. Jeder setzte sich auf einen Matrosen, und ich ritt also auf einem starken Kerl ans Land. Der Anblick des Ufers war lieblich. Zerstreute Eichen auf einer Wiese, weidendes Vieh und ein klafterlanger zerlumpter Amerikaner mit einer abenteuerlichen Marderkappe waren das erste, was wir antrafen. Der Kapitän frug die lebendige Klafter (der Mensch war so dürr, daß man wirklich nichts als Länge an ihm sah) nach einem Landhause, wo man Lebensmittel kaufen könne. Murmelnd und tabakkauend führte uns die Klafter ohngefähr eine halbe Stunde weit zu einem recht hübschen Haus von Backsteinen.«

Der Besitzer des Landhauses kredenzt Cider; ein freundlicher, besonderer Akt, aus dem Lenau sofort die unfreundlichsten allgemeinen Schlüsse zieht: »Der Amerikaner hat keinen Wein, keine Nachtigall! Mag er bei einem Glase Cider seine Spottdrossel behorchen, mit seinen Dollars in der Tasche, ich setze mich lieber zum Deutschen und höre bei seinem Wein die liebe Nachtigall, wenn auch die Tasche ärmer ist.« (»Sämtliche Werke und Briefe«, II, Ffm. 1971)

Der empfindliche Mangel an Nachtigallen, den er in seiner ersten Stunde in Baltimore bemerkt hat, als ob er die Reise nur deshalb angetreten hätte, um ihn zu bezeugen, lässt ihn von nun an nicht mehr los: »Das scheint mir von ernster, tiefer Bedeutung zu sein, daß Amerika gar keine Nachtigall hat. Es kommt mir vor wie ein poetischer Fluch.« »Hier gibt es, wie Sie wissen, keine Nachtigall, überhaupt keine wahren Sangvögel. Dies scheint mir ein poetischer Fluch zu sein, der auf dem Lande liegt, und von tiefer Bedeutung.« »Kein wahrer Singvogel. Alles ist nur Gezwitscher und unmelodisches Geflüster. Selbst der Mensch hat keine Stimme zum Gesang.«

Da nun das Land keinen lyrischen Vogel, also auch keine Lyrik hat, ergibt sich alles Weitere wie von selbst: »Bruder, diese Amerikaner sind himmelanstinkende Krämerseelen. Tot für alles geistige Leben, maustot. Die Nachtigall hat recht, daß sie bei diesen Wichten nicht einkehrt.« »Amerika ist das wahre Land des Unterganges. Der Westen der Menschheit. Das atlantische Meer aber ist der isolierende Gürtel für den Geist und alles höhere Leben.« »Büffon hat recht, daß in Amerika Menschen und Tiere von Geschlecht zu Geschlecht weiter herabkommen. Ich habe hier noch keinen mutigen Hund gesehen, kein feuriges Pferd, keinen leidenschaftlichen Menschen.« »Hier lebt der Mensch in einer sonderbaren kalten Heiterkeit, die ans Unheimliche streift. Größtenteils gewiß ist dies das Werk der Natur. Die Natur selbst ist kalt.«

Solche kalte Heiterkeit ohne Nachtigall führt notwendig zur Entartung: »So z.B. gehen die Männer in den Städten auf den Gemüsemarkt, den Korb am Arme tragend, und kaufen hier das Nötige zusammen, während die Frauen sich zu Hause sehr behaglich und sehr müßig auf eigens dazu eingerichteten Schaukelstühlen hin und herwiegen. Die Weiber sind fast heilig gehalten. Ich habe schon in meinem Innern die heimliche und verwegene Frage aufgeworfen, ob der Grund dieser Erscheinung nicht etwa demjenigen verwandt sein dürfte, der einige deutsche Gebirgsvölker veranlaßt, ihre Kretinen für heilig zu halten.«

Abgestoßen von den Unsitten des Landes, dringt Lenau zum Grund der amerikanischen Gesellschaft vor, nur um zu entdecken, dass sie keinen hat: »Mit dem Ausdrucke 'Bodenlosigkeit' glaub ich überhaupt den Charakter aller amerikanischen Institute bezeichnen zu können, auch der politischen. Man meine ja nicht, der Amerikaner liebe sein Vaterland oder er habe ein Vaterland. Jeder einzelne lebt und wirkt in dem republikanischen Verbande, weil dadurch und solange dadurch sein Privatbesitz gesichert ist. Was wir Vaterland nennen, ist hier bloß eine Vermögensassekuranz. Der Amerikaner kennt nichts, er sucht nichts als Geld; er hat keine Idee; folglich ist der Staat kein geistiges und sittliches Institut (Vaterland), sondern nur eine materielle Konvention.«

Freilich verdient sich dieser Verächter des Geldes, wie sein Biograph Michael Ritter (»Zeit des Herbstes«, Ffm. 2002) erwähnt, einen Teil der Fahrtkosten durch eine »Spekulation mit Wertpapieren« und hat, nahe dem Ort Economy Village, ein Stück Land gekauft und verpachtet, dessen Wert hoffentlich »innerhalb von acht Jahren um das Zehnfache steigen würde«. Aber er besitzt eben, anders als die Krämerseelen, ein Vaterland und weint ihm am Ufer des Atlantik manche Träne nach: »Nun denk ich dein, so sehnsuchtsschwer, / Wo manches Herz mir hold, / Und ströme dir ins dunkle Meer / Den warmen Tränensold! -«

Da die Hoffnung auf rasche Rendite zur Erklärung nicht genügen kann, will er den Daheimgebliebenen begründen, weshalb er überhaupt vom teuren Vaterlande Abschied nahm: »Johannes hat in der Wüste getauft. Mich zog es auch in die Wüste, und hier ist in meinem Innern wirklich etwas wie Taufe vorgefallen.« Ganz nebenbei deckt er damit den Ursprung des europäischen Amerikahasses auf, den schwerlich die Auswüchse des Kapitalismus oder die Unkultiviertheit des Landes angestachelt haben, wenn einem schon beim ersten Glas Cider alles klar sein kann. Nein, Nordamerika muss eine Wüste sein, damit sich der Europäer in ihr zu Gott und zum Gott erhebe. Die Leere, die er in diesem Kontinent zu sehen liebt, ist seine eigene.

Lenau findet sich, in seinem pursuit of unhappiness, wieder in den Indianern, den »Betrübten, Tieferbosten«, die aus der »Heimat« und von der »Muttererde« vertrieben wurden, und in Ahasverus, dem ewigen Juden. In dem gleichnamigen Gedicht, das in Pennsylvania entsteht, wird die Totenfeier für einen jungen Hirten geschildert. Die Jungfrauen schmücken gerade die Leiche mit Rosenkränzen, da nähert sich ein abgerissener Wanderer, beugt sich über den Jüngling und beneidet ihn wortreich um den frühen Tod. »Derweil die Hirten jetzt den Sarg verschließen, / Starrt Ahasver aufs Kruzifix der Decke, / Als ob er plötzlich, tiefgemahnt, erschrecke, / Aus seinem finstern Auge Tränen fließen: / 'Hier ist sein Bildnis an den Sarg geheftet, / Der einst gekommen, schmachtend und entkräftet, / Der einst vor meiner Tür zusammenbrach, / Gebeugt vom Druck des Kreuzes und der Schmach, / Der mich um kurze Rast so bang beschwor; / Ich aber stieß ihn fort, verfluchter Tor! / Nun bin auch ich vom Fluche fortgestoßen, / Und alle Gräber sind vor mir verschlossen.'«

Dem Dichter gelingt es, den alten antisemitischen Mythos von Ahasver, dem »lebensmüden, ärgerlichen Hebräer« (Lenau), der dem kreuztragenden Jesus eine Ruhepause verweigert und seither ruhelos umherirren muss, in so wohlfeile Verse zu kleiden, dass er mit diesem und ähnlichen Werken bald nach seiner verfrühten Heimkehr aus dem Land der Heimatlosen zu einem der beliebtesten Schriftsteller in Deutschland avanciert. Nicht seine geringste Begabung ist es, den gemütlich-morbiden Zeitgeschmack des Biedermeier zu erspüren und ihm gefällig zu sein. Noch heute hat er viele Bewunderer, unter ihnen Günter Grass und Peter Härtling. Mit seinen Bildern aus Amerika schafft er Unvergängliches, um nicht zu sagen Untotes; und im Grunde ist es auch lustiger, ihn über die Wüste ohne Nachtigall klagen zu hören als Brecht, Baudrillard oder Jonathan Franzen.