Nach den türkischen Reformen

Rein und raus

Schon bitter: Da hatte sich das türkische Parlament trotz der Regierungskrise zusammengerauft, um mit den Stimmen der Opposition und gegen den erbitterten Widerstand der mitregierenden faschistischen MHP ein 14 Punkte umfassendes Reformpaket zu verabschieden.

Mit diesen Maßnahmen, zu denen die Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten, die Zulassung der kurdischen Sprache in Medien und Privatschulen sowie die Ausweitung der Versammlungs- und Organisationsfreiheit gehören, glaubt Ankara, die Voraussetzungen dafür geschaffen zu haben, dass der EU-Gipfel im Dezember in Kopenhagen die ersehnte Aufnahme von Beitrittsverhandlungen beschließt. Und nun das: Die Reformen seien zwar »ein sehr positiver Fortschritt«, ließ die EU-Kommission in der vorigen Woche wissen. Von einem raschen Beginn der Beitrittsgespräche aber sei abzuraten.

War die überschwängliche Freude der türkischen Öffentlichkeit (»Europa, wir kommen«, titelte die Tageszeitung Milliyet) grundlos? Kam das Selbstlob der Politiker (»Die Türkei hat einen großen Schritt auf dem Weg zur EU gemacht«, sagte Europaminister Mesut Yilmaz) zu früh? War das Gezeter der Faschisten überflüssig?

Selbst wenn auf der Gipfelkonferenz in Kopenhagen erwartungsgemäß kaum mehr als ein paar unverbindliche Zusagen herausspringen, dürften die Gesetzesänderungen an Europa nicht folgenlos vorbeigehen. Dafür sorgt schon jemand, der gemeinhin nicht für Außenpolitik zuständig ist: Bundesinnenminister Otto Schily. Als erster ranghoher deutscher Politiker begrüßte er die Reformen, die »für die Beziehung zwischen der Europäischen Union und der Türkei von großem Wert« seien. »Auch werden damit noch bestehende Hindernisse in der innenpolitischen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und der Türkei beseitigt.«

Eine Interpretation dieser bürokratischen Formulierung lieferte in der vergangenen Woche sein Sprecher Rainer Lingenthal. Nun seien Hinderungsgründe für Abschiebungen weggefallen. Schily werde möglicherweise in die Türkei fahren, um »sich über die Lage zu unterrichten«. Sprich: um den Startschuss für Abschiebungen zu geben. Als ersten Kandidaten nannte Lingenthal den Anführer der islamistischen Organisation Kalifstaat, Metin Kaplan, der derzeit wegen Aufforderung zum Mord eine Haftstrafe absitzt.

Zwar könnte man im Falle Kaplans sagen, das einem das Schicksal des Operettenkalifen gleichgültig ist, solange er daran gehindert wird, gegen Juden, die Demokratie und den Kommunismus zu agitieren. Von der Abschiebung aber wird jetzt nicht nur er bedroht. Nach den letzten Zahlen leben in Deutschland rund 40 000 türkische Staatsangehörige, die nur über eine Duldung oder Aufenthaltsbefugnis verfügen. Zumeist handelt es sich dabei um abgelehnte Asylbewerber, die bislang aus humanitären Gründen nicht abgeschoben werden konnten. Gut möglich, dass ihnen demnächst ein Schreiben der Ausländerbehörde ins Haus flattert, versehen mit der Betreffzeile: »aufenthaltsbeendende Maßnahme«.

Noch immer stellen, wie die jüngst veröffentlichten Zahlen aus Schilys Ministerium zeigen, die türkischen Staatsangehörigen den größten Anteil der in Deutschland Asyl suchenden Menschen. Kein Wunder, dass das Innenministerium ein großes Interesse an Reformen in der Türkei hegt. Wegen der neuesten Entwicklung könnte die Türkei in die Liste der »sicheren Herkunftsländer« aufgenommen werden. Die Folge wären beschleunigte Asylverfahren und schnelle Abschiebungen.

Damit ist freilich noch nichts über die tatsächlichen Auswirkungen dieser Reformen gesagt. So ist die Abschaffung der Todesstrafe praktisch kaum relevant, wurde in der Türkei doch seit 1984 kein Todesurteil mehr vollstreckt. Stattdessen machte in Hunderten von Fällen der Sicherheitsapparat einfach kurzen Prozess. Solange sich dort die Faschisten der MHP weiter tummeln, dürfte das Land für Oppositionelle nicht sicherer werden.