Abschied von einer Knabbermischung

Sie kennen Tele Bar nicht?

Die Knabbermischung gab es 35 Jahre lang. Jetzt wurde sie vom Markt genommen.

Was haben sie uns nicht schon alles genommen? Fossi-Bär, den Kommunismus, kostenlose Parkplätze, selbst den obligatorischen überkonfessionellen Religionsunterricht. Und jetzt fällt nach dem Toupet von Horst Tappert eine weitere Partialikone deutscher Kollektividentität: die Tele-Bar. Dabei stellte die rheinländische Pralinenmischung jahrzehntelang eine schokoladenüberzogene Morphologie in sechs nussigen Geschmacksrichtungen dar. Sie war ein kultureller Phänotyp für die Massenseele.

Mutter holte die von einem förstergrünen Grundfarbton umrahmte Packung und dem ins Unendliche reichenden creme-orangen Hintergrund, versehen mit einer Typografie, die nicht nur »Groteske« heißt, sondern auch so aussieht, stets am Samstag um 20 Uhr 15 aus der mit 20 Watt-Kerzenglühbirnen beleuchteten Barecke der Schrankwand, deren Korpus aus massiver Eiche bestand (betonte meine Mutter deutlich, wenn wir Besuch hatten). Nachdem Werner Veigel (der Moderator, der sein Gebiss manchmal öffentlich verlor) verdächtig näselnd: »Die nächsten Nachrichten um 22 Uhr 15 nach dem Wort zum Sonntag« verkündet hatte, begann der Samstagabend. Mutti wusch das Geschirr dann erst am Sonntag ab. Da verbrauchte sie dann ein wenig mehr vom Spülmittel der Marke Pril. Das war klasse, denn so wurde die Blumendekor-Aufkleber-Sammlung für das Armaturenbrett im Opel Admiral schneller vervollständigt.

Die Tele Bar lag sanft gebettet auf dem gelben Tischdeckchen des Fernsehtisches mit beige melierter Kacheleinlage. Sofern Hans Rosenthal keine polygonalen Teilansichten von Bildern zum Mitraten präsentierte (»Dalli-Klick!«), unterhielt sich Hans-Joachim Kulenkampff mit telegenen Europäern, die drollige Akzente hatten. Am Ende saß einer von ihnen auf einem ganz hohen Stuhl aus Hartstyropor.

Beim »Großen Preis« zugunsten der Aktion Sorgenkind delirierten Kandidaten in hermetisch verschlossenen Raumkugeln und mussten Briefumschläge öffnen. Heute würden wir befürchten, dass sie in ihren Tupper-Ware-Bällen ersticken, damals fanden wir diese Einzeltierhaltung in Legekugeln nicht einmal merkwürdig. Moderator Wim Thoelke las von Tafeln ab, die ihm die blonde Brigitte im beigen Kostüm überraschend devot überreichte.

Insgesamt war das Leben überschaubar. Es gab nur drei Programme, DDR 1 sahen wir uns ausschließlich am 1. Mai an, weil all die nelkenschwingenden Werktätigen irgendwie an das Finale der Muppet-Show erinnerten. Es gab vier VW-Modelle, 22 Mitschüler, saure Gurken für fünf Pfennig das Stück. Die Kaufhalle war noch kein Multistore und Oma sagte zum Woolworth »Wohlwort« und nicht Whoolwörss. Die Welt schien also erschreckend verständlich - sogar Siedlungen mit 80stöckigen Hochhäusern waren richtig klasse, weil sie so an avantgardistische Captain Future-Soziotope erinnerten. Kurz gesagt: Wir waren noch rein und die Welt erschien uns klein.

Im beginnenden dritten Jahrtausend erfährt der Mensch seine Individualität durch den Kauf auswechselbarer Plastikoberflächen für sein Dualband-Handy. Sekundenkleber sowie Sex nach drei Treffen charakterisiert den Lebensalltag. Playmobilfiguren werden mit sekundären Geschlechtsmerkmalen ausgestattet, ein Dreitagebart hält jahrelang und Last Minute-Flüge müssen Wochen im Voraus gebucht werden.

Der massenkonsumige Fordismus hat auch anthrophologische Spuren hinterlassen. Kein Gedankengebäude, kein Produkt, das nicht einer marketinggesteuerten Abrissbirne zum Opfer fallen kann. Jetzt traf es die Tele Bar, unsere Tele Bar. Seit einigen Wochen wird sie nicht mehr produziert. Die neuen Herrscher der Firma Stollwerck haben sie ganz herzlos und ebenso leise vom Markt genommen. Man sagt, das Produkt sei nicht mehr zeitgemäß. Willkommen im Museum of outdated Art.

Dabei stellte das »Mandel Nuss Konfekt in sechs Geschmacksvarianten« einst eine Speerspitze im Kampf gegen ein primitives Grundbedürfnis und für eine zunehmende Transzendierung der Nahrungsaufnahme in einem wirtschaftlich wieder erstarkten Ludwig Erhardt-Deutschland dar. Aber die Tele Bar war noch mehr. Das Produkt war abstrahierte Geschichte. Das Völkerschlachtdenkmal im Supermarktregal. Denn ihr Werdegang ist eng mit der Entwicklung des antennengedeckten Nationalstaates verknüpft. Am 25. August 1967 begann die Bundesrepublik Deutschland auf der Funkausstellung in Berlin als erstes europäisches Land mit der Ausstrahlung eines regelmäßigen Fernsehprogramms. Nur ein Jahr später war die Zeit reif für die Atomisierung der Sozialität und die Geburt der Tele Bar.

Sie erblickte 1968 das Licht japanischer Ballonlampen in orange-braun getünchten deutschen Reihenhauswohnstuben. Mit dem Einzug in diese radikal-profanen Lebenswelten war ein Auftrag verbunden: Die Nüsschen sollten, so macht es das »Tele« deutlich, zum Fernsehen geknabbert werden. Frei nach individueller Auslegung wurde der zwei Millimeter dick furnierte Beistelltisch im Wohnzimmer zur mondänen Bar, Zauber menschlicher Phantasie.

Sehr früh besaß die Tele Bar bereits ihre Werbecelebrities. Walter Giller (der mit Nadja Tiller verheiratet ist) bewarb die Verführungskraft und den Grundgedanken des Produkts in einem ersten Farbauftritt. Giller sitzt mit dem Rücken zum Betrachter auf einem Drehstuhl. Er dreht sich plötzlich um und fragt mit erstauntem Gesichtsausdruck: »Oh, ich habe gar nicht gemerkt, dass sie schon da sind, aber mit Tele Bar kann einem das schon mal passieren. Sie kennen Tele Bar, nicht? Hier die grüne Packung, das ist Tele Bar. Holen Sie sich die Tele Bar, das sind köstlich kernige Knabbereien. Sechs verschiedene - für jeden etwas - oder alles für einen.«

Zu diesem Zeitpunkt waren die Blaue-Brillen-mit-schwarzkariertem-Rand-tragenden-Werber noch nicht geboren. Vielleicht gerade deshalb sind die TV-Spots eindringlich durchdacht und zielorientiert. Eine klare Ansprache des Warenpublikums und der Verzicht auf einen simplen emotional benefit, erzeugt durch äußerst sympathische Delphine oder narrative provencalische Lavendelfelder im Vordergrund des Bildes. Stattdessen eine aus heutiger Sicht werbepsychologische Brutalinnovation. Der Slogan appeliert an einen Urtrieb des Menschen: den Wunsch, eine Gemeinschaft mit anderen Menschen zu bilden.

Nicht nur, dass ihr Erscheinen untrennbar mit deutscher Fernsehgeschichte verknüpft war, auch in ihrem gesamten Ästhetizismus war sie ein sehr deutsches Produkt. Schließlich fuhren Franzosen noch Citröen, und Alain Delon trug V-Auschnitt-Pullover mit nichts drunter; die Deutschen hatten den Volkswagen und Karl-Heinz Böhm trug Rundausschnitt-Pullover mit Hemd drunter. Die Kulturen waren noch klar geordnet. Global gab es höchstens im Fremdwörterlexikon. So wie den Franzosen der Nougat aus Montelimar bis heute heilig ist, so war die die Tele Bar ein süßer Schrein deutscher Alltagskultur. Wie war das möglich?

Fein säuberlich sortierte Dragees in güldenen Plastikgreifschalen ließen die Auswahl nach ästhetischen Kriterien zu einem wertvollen Genuss werden. Vom soliden Aufbau mit Hartpappe bis zur klaren Optik erfüllte das gesamte Produkt den äußerst deutschen Wunsch nach geordneten Verhältnissen. Auch auf der Packung herrschte twixfreie Geradlinigkeit mit unreißerisch, aber säuberlich angeordneten Schriftarten und Nüssen. Hinzu kam, dass die Tele Bar nicht nur dem menschlichen Streben nach Gemeinschaft entsprach, sondern gleichzeitig den Wunsch nach (vermeintlicher) Individualität befriedigte: »Für jeden etwas - oder alles für einen«.

Wurde das Fernsehen als »modernes Herdfeuer« (Hans Magnus Enzensberger) in den längst verflossenen Zeiten der großen Familienshow noch kollektiv geteilt, so hielt die Tele Bar für jeden Geschmack etwas Besonderes bereit (solange niemand am Tisch unter einer sozialzersetzenden Nussallergie litt): Erdnüsse im Milchschokoladenmantel, Haselnüsse im Milchschokoladenmantel, aber auch Haselnüsse in Zartbitterschokolade usw. Mit den kecken Pariser Mandeln kam zusätzlich ein Hauch von Eurovisionsinternationalität in die gute Stube.

Heute ist nichts mehr einig und verbunden. Heute gibt's nur noch die Selbstverwirklichungsbücher mit Deutschländer-Würstchen-Ästhetik in Paperback und kassenärztliche Psychologen als Krücken der Egoentwicklung.

Das deutsche Einzelkind fordert in einem Werbespot von seiner Mutter etwas zum Spielen, zum Essen und eine Überraschung soll bitte schön auch noch dabei sein. Wenn das Überraschungsei drei Wünsche auf einmal erfüllen soll, so kommt es damit exakt den Ansprüchen einer egoistischeren, allein auf das Individuum zugeschnittenen Sozialität nach. Ein Schokoladenei ist äußerst umständlich aufzuteilen. Es knackt übrigens auch nicht beim Hineinbeißen.