Die Sat.1-Serie »Die Anstalt«

Diagnose: verrückt

Der Wahnsinn hat jetzt ein eigenes TV-Format. Aber war das noch nötig? Ja, die Sat.1-Serie »Die Anstalt« ist gelungen.

Die Bekloppten kommen. Die Zahl der Therapiestunden steigt, der Anteil der Panikkranken (Leute, die z.B. Angst haben, Auto zu fahren, andere zu verletzen, zu fliegen o.ä.) an der Bevölkerung soll bei zwei Prozent liegen, die Dunkelziffer soll mindestens doppelt so hoch sein, 80 Prozent der Deutschen haben Angst um ihren Job. Davon wird man verrückt.

Die Bildindustrie zieht nach. Der Irre von Bagdad ist wieder da, Mel Gibson spielt wie immer einen durchgedrehten Familienvater; um unsere Freiheit zu schützen, wird die Freizügigkeit eingeschränkt - passendes Bild: »Minority Report« von Steven Spielberg, Start: 3. Oktober. In der letzten Woche fanden im Fernsehen die verordneten Gedenkfeiern für einen heißen Abriss in New York statt, kürzlich ermittelte TV-Fetti Dieter Pfaff als unkonventioneller Psychotherapeut, und dass bei der Talkshow »Zwei bei Kallwass« alle drei nicht richtig im Oberstübchen ticken, findet man schnell heraus, ganz ohne Lithium.

Es ist bald wie im 18. Jahrhundert. Da gelangte der Wahnsinn zu echtem Volksruhm in öffentlich zugänglichen Irrenanstalten. In der Literatur regierte die Frühromantik. Jedenfalls erfreute sich die Bevölkerung an ihrer soeben entdeckten Krankheit, der Neurose, die damals freilich noch nicht so hieß.

Welche Wahnsinnsform passt denn heute? Noch in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts delektierte man sich im Zuge der Antipsychiatrie an der Schizophrenie. Sie wirkt unserer rational durchgeplanten Gesellschaftsrealität diametral entgegen. Der Schizophrene erlebt seine eigenen Gedanken als fremd, und wenn es in ihm denkt: »Verdammt, ich hab jetzt Appetit auf Bratkartoffeln«, dann glaubt er, die CIA, die Stasi oder der KGB habe ihm befohlen, die Pfanne rauszuholen. Das Wissen um das revolutionäre Potenzial dieser Erkrankung wich der Ansicht, dass das auf die Dauer nervig ist. Der Psychopath wurde medikamentös eingemeindet.

Jüngst allerdings, genauer, letzte Woche im Spiegel, forderte der Marburger Analytiker Manfred Pohlen, den Geist wieder zu befreien. »Freiheit für Ängste und Macken«, seelische Leiden hätten im Korsett der Klinik nichts zu suchen. Die Revolte der Seele gegen den Rationalitätsterror sei berechtigt, man könne die Symptome, tja, durchaus nutzbar machen.

Dass Terror bekloppt macht, wissen auch andere. Zumeist jugendliche Demonstranten protestierten am letzten Wochenende in Köln. Thema: Wir wehren uns gegen die Privatisierung der Gesundheitssysteme. Also: Protest zu Recht. Aber dass sich mal die Krankenkasse als Fokus von Jugendrenitenz etablieren ließe, hätten Trendscouts auch nie gedacht. Aber spätestens wenn die AOK mitteilt, dass Krankheit oder was man dafür hält, nicht mehr finanzierbar ist, wird's ärgerlich. Dann gibt's eine Zweiklassenmedizin.

Wozu diese Suada? All das muss zusammengebracht werden. Da große Theoretiker mit Durchblick so schnell nicht zu finden sind, kommt den Medien, dieser großen, permanenten Erzählung und täglichen Theoriebildung, diese Funktion zu. Der ehemalige RTL-Programmdirektor Marc Conrad hat diese Aufgabe bewältigt. Conrad entwickelte die Serie »Die Anstalt - Zurück ins Leben«, wo sich die große Welt in der kleinen geschlossenen Abteilung des fiktiven Psychiatriekrankenhauses Rosental - es geht mit dem Teufel zu, wenn das nicht im fiktiven Berlin steht - widerspiegelt, einschließlich drohenden Krankenkassenliebesentzugs.

Und dafür allein gebührt ihm schon ein großes Lob. Denn es ist schwer, in Deutschland ein eigenes Format unterzubringen. In der Regel heißt es, wenn ein Konzept entwickelt wird: Was woanders nicht gelaufen ist, hat hierzulande keine Chance. Möglich, dass es irgendwo auf der Welt eine Serie gibt, die in der Klapsmühle spielt. Aber wohl keine, die in einer deutschen Klapsmühle spielt.

Nun wird »Die Anstalt«, über die vorher genug Witze gerissen wurden (»Wozu denn das noch, das Fernsehprogramm ist doch eine einzige Irrenanstalt«), sicher nicht der Quotenrenner wie »Schwester Stefanie«. Aber Kultpotenzial hat sie schon. Das haben immer die Serien, die irgendwie doch noch einen Zugang zur gesellschaftlichen Realität haben. Man schaue sich die Karriere von »Hinter Gittern« an; keiner schreibt darüber, und trotzdem wird sie von fünf Millionen Leuten gesehen.

Wie sieht es nun bei »Die Anstalt« aus, und was haben die Privatkrankenkasse und der Wahnsinn bei Sat.1 miteinander zu tun? In der ersten Folge wurde der Protagonist Philip Keller in die Geschlossene eingewiesen. Diagnose: paranoide Wahnvorstellungen mit Fremdgefährdung. Philip sieht das ganz anders. Seine Vermieterin hat ihn angezeigt, weil sie ihn aus der Wohnung haben will. Die junge Ärztin Dr. Braun versucht, die Wahrheit herauszufinden. Benimmt sich Keller wie ein Psychotiker, weil er in der Anstalt sitzt, oder sitzt er in der Anstalt, weil er nicht alle hat?

Während wir über das gesellschaftliche Scheitern des ehemaligen Kunstlehrers und jetzigen Taxifahrers (und damit über das Scheitern einer Generation) informiert bzw. im Unklaren gelassen werden, sitzt die Parallelhandlung zu Tisch über den Klassenmedizinkampf, Frau Dr. Chefärztin Constanze von Weyers verhandelt mit der Vertreterin der Krankenhaus GmbH: »Wir müssen die Liegezeiten verkürzen, sonst rechnet sich der Laden nicht. Das können wir uns auf dem freien Markt nicht leisten. Entlassungen würden der Statistik helfen.« Die Chefärztin: »Wir können uns gern mal die Patienten anschauen, dann können Sie selbst urteilen, wer raus darf.« Nun endet das verdientermaßen mit einem Was-aufs-Maul seitens eines Patienten mit »geringer Frustrationstoleranz mit Neigung zu Gewaltausbrüchen« (von Weyers).

Die mit geringer Frustrationstoleranz mit Neigung zu Gewaltausbrüchen behaftete gesellschaftspolitische Frage, wer raus darf und wer rein muss, wird klugerweise nicht beantwortet. Das Problem: »Hier handelt es sich um Menschen und nicht um Betten.« Die Neoglobaliliberalisierung und ihre Marktkräfte wurden fürs Erste außer Kraft gesetzt, bis zur nächsten Folge, sei hinzugefügt.

Was aber geschieht mit dem Taxifahrer? Hier war ein echter Witzbold am Werk bzw. am Drehbuch. Denn Kellers Vermieterin ist zugleich Schönheitschirurgin. Kraft dieses Amtes kann sie den renitenten Mieter zwangseinweisen lassen. Dr. Braun aber forscht nach und trifft die Frau in Kellers Wohnung, wo die Brust-OP-Spezialistin gerade Kellers Sachen verschwinden lässt. In einem furiosen Monolog fährt sie die junge Irrenärztin an. Erst habe ihr der verbrecherische kollektivistische Staat das Eigentum geklaut, dann habe sie es mit viel Mühe wiederbekommen. Die anstehende Luxussanierung zwecks Profitmaximierung lasse sie sich jetzt doch nicht von einem gescheiterten westdeutschen Akademiker nehmen! Wie geil: Eine vom Sozialismus durchgeknallte Ostschrippe setzt im Kapitalismus die Ellbogen ein und lässt den armen Dienstleister stasimäßig in der Anstalt verschwinden. (Wir haben es geahnt, dass das eine Rolle spielen wird; das Ärztezimmer sieht aus wie ein ostdeutsches Betriebsratsbüro. Keller: »Ist ja wie im Osten hier!«)

Gleich in der ersten Folge der 29teiligen Serie macht die »Anstalt« klar, womit sich dieses Land schwer tut: mit der Wiedervereinigung. Welche Wahnsinnsform ist heute aktuell, wurde am Anfang dieses Artikels gefragt. Die Antwort: Vielleicht ist es die Nationalpsychose - und das erhebliche Leiden daran. Nach einer Stunde Sat.1-Sendezeit überlegt man, ob nicht eine einzige große Mauer die vielen kleinen Mauern um die geschlossenen Abteilungen und durchs Oberstübchen ersetzen würde. Wenn das nicht eine Serie für Zyniker ist. Prädikat: wertvoll. Jetzt wünscht man sich nur noch viele Cameo-Auftritte: Wolfgang Lippert, Helmut Kohl, Dolly Buster und wer sonst noch so Insasse ist im Deutschland-Knast.

Geschenkt, dass »Die Anstalt« konsequent umsetzt, was sich in Krankenhäusern dieser Art so abspielt. Da ist der Patient mit dem Tourett-Syndrom (oder auch postpubertärem Vulgarismus nach Walter Moers), der jedes Mal »Arsch« und »Ficken« sagt statt »Bitte« und »Danke«. Es fehlt der Waschzwang nicht und auch nicht die sexgierige Irre. Oder die junge Frau, die gern raus möchte und dem Arzt verkündet: »Ich schlafe gut, ich vertrag' die Medikamente gut, ich komm' klar. Und die Stimmen, die ich gehört habe, sind wie weggeblasen.« Ein Kaninchen auf der Wahnsinnsebene Top 2 gleich nach den weißen Mäusen spielt auch mit.

Die Dialoge? Vom Feinsten: »Sie stecken mit der Schlampe unter einer Decke«!« - »Halt die Schnauze, du Spasti!« Wann hört man mal so eindeutige Statements in unserer vom Weicheijournalismus à la Astrid Frohloff versauten Medienwelt? Die Werbepausen? Wie bestellt: »Hey, ich bin der Gilb, ich mach' hier die Gardinen grau« und »Amerika macht mobil. Jetzt im stern.« Die Musik im Radio? Atomic Kitten und U2. Der Vorspann: Lächelnde Irre im »Bilitis«-Weichzeichner. Der schönste Satz: »Hallo, ich bin der Amtsarzt vom psychiatrischen Dienst. Wir haben einen Antrag auf ihre Unterbringung.« Oder auch: »Er ist mit der Verwaltung der Fernbedienung beauftragt.« Oder: »Dafür, dass Sie nicht hierher gehören, stehen Sie gerade ziemlich im Mittelpunkt« bzw.: »Diagnose: verrückt.«

Das Problem am Verrücktsein in der rationalisierten Welt: Man hat (normalerweise) keine Zeit dazu. Hier kann man sich auf viele schöne Folgen Auszeit freuen; Anzeichen dafür, dass der deutsche Wahnsinn abnehmen könnte, gibt es ohnehin nicht. Die heilsame Triebabfuhr durch die Flimmerkiste wurde von Medienwissenschaftlern immer noch nicht erschöpfend untersucht. Auch nicht bei einer Verkürzung der Liegezeiten. Wieso eigentlich »Zurück ins Leben«? Wir sind doch mittendrin. Zumindest am Donnerstagabend.

»Die Anstalt«, donnerstags 21.15 Uhr auf Sat.1