Der 11. September in New York

Riss im Herzen

Der 9/11-Gedenktag ereignete sich auf den Straßen New Yorks als surreale Erzählung.

Der Tag beginnt mit der Anrufung Gottes. »God Bless America« scheppert es um acht Uhr morgens von einer Brooklyner Grundschule herüber. Die Lautsprecher werden getestet. Die helle Frauenstimme und der Knisterton hören sich an wie aus vergangenen Tagen. So, als hätte der Song auch schon die amerikanischen GIs im Zweiten Weltkrieg aufgemuntert. Allerdings geht es nicht um Pearl Harbor, sondern um ein nationales Trauma von ähnlichem Ausmaß, 9/11, ein Jahr danach.

Die Schüler marschieren auf den Pausenhof. Routiniert nehmen sie am Rand des Hofs Aufstellung, Klasse für Klasse. Die Älteren wirken eher lustlos, während die Jüngeren begeistert das Sternenbanner schwingen. Aufmarsch für eine Ansprache ihrer Direktorin, anschließend eine Schweigeminute, um 8.46 Uhr, dem Zeitpunkt, als vor einem Jahr das erste entführte Flugzeug in den Südtower des World Trade Centers einschlug. Die Lehrerin spricht von »Helden«, sie spricht vom »Frieden« und von nationaler »Stärke«. »Helden, das ist ein besonderes Wort. Meiner Ansicht nach waren wir alle damals Helden, wir alle, die wir anderen uneigennnützig geholfen haben.«

In Sätzen wie diesen schwingt bereits jener Ton mit, der sich durch die meisten Veranstaltungen des 9/11-Gedenkmarathons ziehen wird. Gejammert wird nicht, von Gebrochenheit keine Spur. Nun muss man erst recht zusammenhalten, darin sind sich alle einig. »United We Stand!« ist neben der amerikanischen Fahne das Lieblingsmotiv auf T-Shirts und in Schaufenstern. Patriotismus allerorten, der sich mitunter so gemäßigt äußert, wie bei der Grundschullehrerin, manchmal aber auch alle Vorurteile bestätigt, die über Amerikaner kursieren, so etwa im Falle George W. Bushs, der gleichzeitig mit der Lehrerin seine Ansprache hält. »Wir erneuern unsere Verpflichtung, den Krieg zu gewinnen, der hier begann«, sagt der Präsident auf der Gedenkveranstaltung in Washington, die live im Fernsehen übertragen wird.

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Der Wind bläst so heftig, dass er ein Loch in die Fahne reißt, die über Ground Zero an eine Hochhauswand gehängt wurde. Im Fernsehen wird dieser Riss später als der Riss bezeichnet, der der Nation seit dem 11. September im Herzen klafft. Die Besucherplattform, von der Touristen normalerweise auf die Baugrube schauen können, ist abgebaut. Stattdessen patroullieren Polizisten vor Absperrblöcken. Nur Familienangehörige der Opfer dürfen durch, sie sind offenbar die einzigen, die Schwarz tragen.

Alle anderen Trauernden präsentieren sich poppig in Rot/Weiß/Blau. Mal haben sie sich die amerikanische Flagge piratenmäßig um den Kopf gebunden, mal haben sie sie um den Oberarm oder den Hals geschlungen, gern auch kombiniert mit einem »I love New York!«-T-Shirt. Man gibt sich betont selbstbewusst. In einem Cartoon der Village Voice schlägt der Zeichner vor, statt der zwei Türme eine »persönliche Botschaft an Bin Laden« architektonisch umzusetzen. Man solle zwei gläserne Hochhausarme bauen, inklusive einer zur Faust geschlossen Hand und einem ausgestreckten Stinkefinger.

Insgesamt aber scheint im Financial District business as usual vorzuherrschen. Die Geschäfte sind geöffnet, Anzugträger laufen herum, telefonieren mit Handys oder holen sich ihr Mittagessen. Das einzig Ungewöhnliche sind die Journalisten, die vor der Absperrung auf Feuerwehrleute oder Angehörige warten, um zu fragen: »Wen haben sie verloren?« - »Einen Freund von mir«, antwortet einer. Der Reporter: »Hatte er Familie?«

Auf einem VW-Käfer neben dem U-Bahnausgang ist in riesigen Lettern »We'll never forget« aufgesprüht (mit dem Zusatz »Look, don't touch«). Ein Mann, der sich von Kopf bis Fuß in die amerikanische Fahne gekleidet hat, hockt am Straßenrand. Versonnen blickt er in die Höhe, umringt von einem Dutzend Fotografen. Das ist das Bild, auf das gewartet wird. Man fragt sich, was dem Mann wohl durch den Kopf gegangen sein mag, als er vor dem Spiegel stand.

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Seit Wochen sind die Zeitungen und die verschiedenen Fernsehkanäle voll mit 9/11-Geschichten. Sie handeln von den Schwierigkeiten der Kinder, mit dem Terroranschlag umzugehen, oder von Pförtnern, Paketboten, Gemüsehändlern, die zufällig am Unglückstag vor Ort waren. Kein Drama, das nicht aufgerollt würde. Man gedachte selbst der Hunde des Wachpersonals, die unter den Trümmern begraben wurden.

Und heute, am Jahrestag, gibt es buchstäblich hunderte von Veranstaltungen: Ausstellungen, Lesungen, Konzerte, Performances. Ein Kino lässt rund um die Uhr Woody Allens »Manhattan« laufen. In der American Bible Society wird pünktlich um 8.46 Uhr Mozarts »Requiem« aufgeführt. Die Municipal Art Society zeigt Werke der Künstler, die ihre Ateliers in den Twin Towers hatten.

Doch je mehr man sich anschaut, je länger man durch die Straßen läuft, je mehr man in dieser Stadt nach Zeichen von Versehrtheit sucht, desto surrealer mutet sie einem an. Da steht man beispielweise an der Canal Street und entdeckt das Sonderangebot »Disaster Cards - buy three for the price of two!«, das Postkarten bewirbt, auf denen das WTC gerade zusammenfällt. Oder man kommt auf dem Broadway an einer von mehreren »Prayer Stations« vorbei. Das sind Tische, die Anhänger des christlich-fundamentalistischen Predigers Billy Graham aufgestellt haben, an denen man beten kann, wenn einem nach Beistand von oben zumute ist. Die Leute am Stand tragen T-Shirts mit der Aufschrift »Prayer Changes Things«, und man sieht tatsächlich Passanten, die Arm in Arm mit einem der Graham-Jünger auf dem Bürgersteig stehen, die Augen geschlossen, versunken im Zwiegespräch mit dem Herrn.

Im Vergleich mit dem, was auf der Straße passiert, kommt einem das Fernsehen einigermaßen real vor. Hier findet man die stringente Erzählung, hier haben sie alle ihren festen Platz: die Angehörigen der Opfer, die Augenzeugen, die Passanten, die Experten, die Politiker, die Militärs, die Polizisten und natürlich die Feuerwehrleute. Man kann quer durch die verschiedenen Programme zappen - die zur Feier des Tages samt und sonders werbefrei sind -, und trotzdem fügt sich die Berichterstattung zu einem einheitlichen Bild.

Da hat man »America Remembers« auf NBC, eine Mischung aus Talkshow, Dokumentation und Nachrichtensendung. Ein Name reiht sich an den anderen. General Richard Myers spricht sich für einen Präventivschlag gegen den Irak aus (»One madman left in the world can cause terrorist attacks«), Martin Panic wird interviewt, der Vater eines der im Pentagon verunglückten Opfer (»He was a good man«). Ein Amerikaner arabischer Herkunft muss die Tränen zurückhalten, als die Rede auf seine Frau kommt, die mit dem vierten Flugzeug über Pennsylvania abstürzte. Er sagt: »Politics is not my field, but all I know is that no religion leads to kill somebody.« Eine Anregung, die der Moderator dankbar aufnimmt: »Was ist eigentlich mit al-Qaida los?« fragt er seinen nächsten Gesprächspartner, den Senator Bob Graham aus Florida. »Das Beste, was man gegen Terroristen tun kann, ist Festungen im Inneren aufzubauen und die Länder zu bekämpfen, die Terroristen unterstützen.«

Die Konkurrenz von Fox 5 ist unterdessen live vor Ort und lässt statt der Hinterbliebenen lieber Überlebende zu Wort kommen, und das hieß vor allem: Feuerwehrleute, die Helden New Yorks. (Auf Plakaten in der U-Bahn, die für Nachwuchs-Firefighter werben, steht lediglich: »Heroes wanted!«) Im Zentrum der Aufmerksamkeit: Charlie Bornhoff und Jim Coyne. Beide waren auf Ground Zero im Einsatz, direkt nach den Anschlägen.

Aber, erzählt Coyne, als er am 11. September nach Hause gekommen sei, habe er sich einfach hinsetzen und einen Song schreiben müssen: »It took only 25 minutes and it was like a therapy.« Sein Stück »Sacrifice« ist Middle-of-the-road-Rock in der Tradition von John Cougar Mellencamp. Coynes Kollege Bornhoff hatte bei seinem Einsatz passenderweise die Digicam dabei und schnitt für den Song einen Videoclip. »It was like a therapy.« Coyne pflichtet bei: »It was like a therapy, it was a gift from God and it's a gift from me to the people.« Das Lied, erfährt man vom Moderator, ist inzwischen zum Hit auf vielen Feuerwehrwachen avanciert, und zur Feier des Tages spielt er den Clip ab. So schlimm, denkt man sich bei den Bildern, ist es auf Ground Zero vielleicht doch gar nicht gewesen. Man sieht lächelnde Gesichter, qualmende Ruinen, Hände, die Schweiß von der Stirn wischen, Blumen und Stars & Stripes.

Dabei war es schlimm, sogar noch viel schlimmer. Wenigstens dann, wenn man den nun folgenden Berichten von drei Fox-Kameramännern Glauben schenkt, die - auf der Suche nach dem ultimativen Shot - auf den brennenden ersten Turm zueilten.

Wenn man den drei Männern zuhört, wie sie von dem Mann erzählen, der im 72. Stock aus dem Fenster hing, mit seinem Jackett winkte, um wenig später in die Tiefe zu fallen, wenn sie von Feuerwehrmännern erzählen, die kurz vor dem Einsturz des ersten Turms in das Gebäude einrückten, als sei es ein ganz normaler Job, wenn sie von der Druckwelle sprechen, die die gesamte Gegend in völlige Dunkelheit tauchte, und wenn von all diesen Geschichten ihre Aufnahmen laufen - dann hat man ein Szenario vor Augen, das die Offenbarung des Johannes wahr werden lässt. Trotz der Übermedialisierung ergreift einen unwillkürlich ein ähnliches Entsetzen, wie es auch die Betroffenen gefühlt haben müssen. Augenblicke völliger Ohnmacht und Hilflosigkeit.

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Am Union Square versammelt sich das andere Amerika, die Friedensbewegten, die, die sich kein X für ein U vormachen lassen, die, die mit dem Lauf der Dinge nicht einverstanden sind. Es ist ein großer quadratischer Platz, zentral gelegen. Die Nordwestecke des Szeneviertels East Village schließt hier an, die New York University ist nicht weit entfernt, der Broadway führt am Union Square vorbei, und mehrere U-Bahnlinien schneiden sich hier. Nach den Anschlägen war dies die südlichste Stelle von Manhattan, die noch öffentlich zugänglich war, weiter in Richtung Ground Zero ging es nicht, die Straßen waren gesperrt. Hier traf man sich, hier zündete man Kerzen an, hier hängten Menschen Fotos von vermissten Angehörigen auf, in der Hoffnung, irgendjemand, der etwas über den Verbleib wisse, werde das Foto sehen und sich melden.

Das erste, was man sieht, wenn man aus der U-Bahn steigt, sind die Christen, die für den Frieden fasten. Obwohl sie schon seit zehn Tagen dabei sind, machen sie keinen sonderlich erschöpften Eindruck. Fröhlich haben sie sich in einer Ecke versammelt, klampfen auf ihren Gitarren und singen aufmunternde Lieder. Überhaupt scheint jeder, der im Besitz einer Gitarre ist, sie heute mit an den Union Square gebracht zu haben. Unter den Bäumen hocken barfüßige Langhaarige im Kreis, kiffen und spielen Bürgerrechtshymnen, auf einer Treppe sitzt ein Hippiemädchen Anfang 20, das sich eine amerikanische Fahne auf das T-Shirt geklebt hat, und klimpert selbstverloren auf ihrer Gitarre herum. Zu ihren Füßen schreibt ein junger Mann mit Kreide »They can destroy the Twin Towers but not our freedom« auf den Bürgersteig.

Er ist nicht der einzige, der seine Wünsche zum 11. September mitteilt. Ein paar Schritte entfernt ist der »Town Hall Wall«, eine 30 Meter lange Pappwand. Friedensaktivisten haben sie aufgestellt, zusammen mit einem halben dutzend Tischen, an denen es farbige Pappschilder und Buntstifte gibt. Jeder ist aufgefordert, seine 9/11-Gefühle aufzuschreiben und an einen der Aktivisten weiterzureichen, der sie dann an die Wand tackert.

Ein wenig ratlos steht man vor einem kleinen Brief, in dem jemand schreibt, er habe zwar niemanden bei den Anschlägen verloren, sei aber trotzdem traurig, ein anderer hat ein großes Herz gemalt, in dem die Twin Towers stehen. Ein dritter bedankt sich dafür, wie nett die New Yorker zu ihm waren, als er vor sechs Monaten herzog. Die meisten Schildchen zieren Sprüche wie: »Let humanity speak, let humanity listen«, »We must require our government to nonviolently negotiate international peace«, »Downtown's view is now the statue of liberty. Remember what it stands for!«, »Jesus loves you« oder »Gandhi is back!«

Plötzlich gibt es Bewegung um einen der Tische. Es bildet sich eine Traube von Menschen. Es ist, als würde die latente Aufregung, das Gefühl, heute sei ein wichtiger Tag, sich auf einmal entladen wollen. Ein Mann Mitte 40, braungebrannt, Sonnenbrille, Polohemd, Typ erfolgreicher Unternehmer, will sich jetzt mal mit den Peaceniks anlegen: »Ich mag das nicht, was ihr hier tut.« Eine der Organisatorinnen, eine Frau Ende 20, antwortet ihm: »Du hast also was gegen die Redefreiheit?« - »Ich hab' nichts gegen die Redefreiheit, ich hab' nur was gegen dieses Gruppending hier. Die Redefreiheit handelt vom Recht des Individuums.« Die Frau winkt ab. »Deine Vorstellung von Redefreiheit kenne ich, die gilt nur für Leute, die akzentfrei sprechen.« Sie zeigt in Richtung der Pappwand, wo ein Zettel dazu aufruft, Atombomben über Mekka abzuwerfen. »Hast du den Zettel gesehen, auf dem 'Nuke Mekka' steht? Du bist herzlich eingeladen, auch so einen Zettel aufzuhängen.«

Ein grauhaariger Althippie springt ihr bei: »Was soll das denn heißen, das Gruppending? Wenn ganz Amerika sich einig ist, in den Krieg ziehen zu wollen, ist das hier ja wohl alles andere als ein Gruppending.« Schluss mit dem Geplänkel, jetzt wird es ernst. »Das ist ja auch richtig so«, gibt der Angegriffene zurück, »Saddam ist ein böser Diktator.« - »Wir haben kein Recht, ihn anzugreifen.« - »Manchmal muss man solche Leute angreifen. Es gibt eine Zeit für Frieden, und es gibt eine Zeit für Krieg. Jetzt ist Zeit für Krieg.« - »Krieg hat noch nie irgendein Problem gelöst.«

Da ist der Poloshirt-Träger zwar ganz anderer Meinung, aber zumindest in einem Punkt glaubt er sich mit den Umstehenden einig zu sein: »Hey, wir alle wissen doch, wer das WTC angegriffen hat.« Im Publikum bricht ein hämisches Gelächter aus, jemand ruft: »Wir wissen gar nichts, wir wissen nur das, was die Medien uns sagen.« Ein afro-amerikanischer Dreadlockträger in einem schwarzen Anzug geht sogar noch weiter: »Der Anschlag war ein Inside-Job, die CIA war's!«

Nun mag ein solches Straßengespräch zwei Extreme markieren, aber tatsächlich hat man mitunter den Eindruck, als gäbe es nur zwei Positionen. Entweder läuft das Nachdenken über den 11. September darauf hinaus, irgendjemandem den Krieg zu erklären, oder man zweifelt gleich alles an. Dann können es auch die eigenen Leute gewesen sein.

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Kein Memorial-Tag ohne Konzert im Central Park, umsonst und draußen. Dem Anlass angemessen, treten ein klassisches Orchester auf, ein Jazz-Orchester, ein Chor sowie ein Sänger, auf den sich alle einigen konnten. Billy Joel singt »New York State Of Mind«, Wynton Marsalis' Lincoln Jazz Orchestra spielt Duke Ellington, das Orchestra of St. Luke's gibt die »Rhapsody in Blue« und Meryl Streep rezitiert Abraham Lincoln.

Es ist ein Konzert wie ein Schnelldurchlauf des Trauertages. Noch einmal wird der Glaube daran beschworen, das auserwählte Land, God's Own Country, zu sein (von Leonhard Bernsteins »Simple Song« bis Thompsons »Alleluja«), noch einmal wird auf die ruhmreichen Kapitel der eigenen Geschichte verwiesen (Abraham Lincoln, George Gershwin, Duke Ellington), die Fahne wird geschwenkt, und noch einmal kommt George W. Bush zu Wort. Auf einer Großleinwand wird er eingeblendet, um anzukündigen: »Justice will be done.« Und am Ende singen alle zusammen: »God Bless America«.