Fußball in Brasilien

Kraftvoll zerstören

Ohne Stars und mit defensivem Fußball hat sich der Provinzclub Juventude an die Spitze der brasilianischen Liga gespielt.

Keine drei Monate ist es her, dass die brasilianische Nationalmannschaft ihren fünften Titel, die Penta, bei einer Fußballweltmeisterschaft errungen hat. Der brasilianische Fußball war damit rehabilitiert, die einzig richtige Rangordnung - zuerst kommt Brasilien und danach der Rest - war wieder hergestellt.

Sicher, man hatte nicht wirklich brilliert und zudem fast ausschließlich gegen Mannschaften antreten müssen, die in ihren spielerischen Mitteln doch recht beschränkt sind. Aber da nach der miserablen Vorbereitung niemand ernsthaft mit dem Titelgewinn gerechnet hatte, erstrahlte der Triumph nur in noch hellerem Glanz.

Während also eitel Sonnenschein herrscht, tut sich in der Liga Besorgniserregendes. Der Spieler, der in Brasilien bei weitem das geringste Ansehen genießt, droht die Meisterschaft zu dominieren: der defensive Mittelfeldspieler, der volante, und zwar obendrein jene Variante, die technisch wenig versiert ist, kaum etwas für den Spielaufbau leistet, sondern einzig das Spiel des Gegners mit robustem Einsatz zu zerstören trachtet, der volante brucutus, der größte Feind des Fußballs.

Statistiker haben jedenfalls herausgefunden, dass nicht nur mehr Mannschaften als in früheren Jahren das defensive Mittelfeld übermäßig stark besetzen, sondern auch, dass die Mannschaften, deren Spiel von der Kraft lebt, im Schnitt erfolgreicher sind als jene, die ein elaboriertes Passspiel pflegen.

Ein Paradebeispiel für diese Entwicklung liefert die Überraschungsmannschaft der laufenden Saison, der Esporte Clube Juventude aus der Provinzstadt Caxias do Sul. In der letzten Spielzeit erst kurz vor Schluss dem Abstieg entronnen und auch in diesem Jahr als heißer Abstiegskandidat gehandelt, führt die Mannschaft nach knapp der Hälfte der Spiele, die zu den Play-offs führen, die Tabelle souverän an.

Zu verdanken hat sie diesen unerwarteten Erfolg dem von ihr praktizierten Pingpong-Fußball, einer Art kick and rush, bei der es darauf ankommt, nach gewonnenem Zweikampf den Ball schnell und ohne Schnörkel vor das gegnerische Tor zu bringen und dort den Abschluss zu suchen. Sie gehört zu den Mannschaften in der brasilianischen Meisterschaft, die die wenigsten Kombinationen spielen. In der Zweikampf- und Foulstatistik dagegen ist sie unter den führenden. Ist der Angriff auch nur mittelmäßig, so ist die Defensivleistung rekordverdächtig. In den ersten zehn Spielen hat die Mannschaft ganze vier Tore hinnehmen müssen.

Die 1939 geschriebene Vereinshymne beschwört zwar eine ruhmreiche Vergangenheit, aber nennenswerte Erfolge jenseits der heimischen Stadtgrenze konnte Juventude erst Ende der neunziger Jahre feiern. 1998 gewann man erstmals die Meisterschaft des Bundesstaats Rio Grande do Sul und schaffte es so, ein wenig aus dem Schatten der beiden Spitzenteams aus Porto Alegre, Grêmio und Internacional, herauszutreten.

Ein Jahr später folgte sogar der Gewinn der Copa do Brasil, des brasilianischen Pokalwettbewerbs. Zum Establishment des brasilianischen Fußballs gehört man deshalb aber noch lange nicht. Die einzige Kategorie, in der Juventude bislang einen Rekord hält, ist die des geringsten Publikumszuspruchs. Vor fünf Jahren verloren sich bei einem Meisterschaftsspiel nur 55 zahlende Zuschauer im Stadion, immerhin durften die einen Sieg ihrer Mannschaft erleben.

Zur rustikalen Spielweise des Teams passt es, dass einer der beiden Stürmer auf den Namen Cláudio Pitbull hört. Den Spitznamen verpasste ihm ein ehemaliger Trainer wegen seiner körperlichen Statur. Pitbulls Sturmpartner heißt Leonardo Manzi, ein Spieler, der sich hierzulande größerer Bekanntheit erfreuen dürfte als in Brasilien. Er war der erste Brasilianer am Millerntor. Zwischen 1989 und 1996 absolvierte er 26 Bundesligaspiele für den FC St. Pauli. Dort brachte er es nicht wegen, sondern trotz seiner technischen Möglichkeiten zum »legendärsten Publikumsliebling« aller Zeiten.

Doch auch das bewahrte ihn nicht davor, auf dem Umweg über Hannover 96 in der tiefsten niedersächsischen Provinz beim BV Cloppenburg zu landen. Im Jahr 2000 kehrte er nach Brasilien zurück. Aus den Niederungen der Oberliga Niedersachsen/Bremen stieg er auf zum Goalgetter des Tabellenführers im Lande des Weltmeisters.

Bei Juventude ist er einer der wenigen erfahrenen Spieler. Denn mangels finanzieller Möglichkeiten ist man dort gezwungen, auf den eigenen Nachwuchs zu setzen. Einige Kolumnisten sehen darin den Vorteil, dass die Spieler es gewohnt seien, unter den Widrigkeiten des südbrasilianischen Winters zu spielen.

Denn die 330 000 Einwohner zählende Stadt Caxias liegt in der Region der Serra, wo die Temperaturen im Winter den Gefrierpunkt auch schon mal unterschreiten. So fand das diesjährige Meisterschaftsspiel gegen Vasco da Gama aus Rio de Janeiro bei einer Temperatur von zwei Grad Celsius statt. Juventude gewann 1:0.

Aber allein auf das Klima lässt sich der Erfolg der Mannschaft kaum zurückführen. Im deutlich wärmeren Rio wurde Mitte September mit Botafogo ein anderer Traditionsverein im Maracanã-Stadion mit 4:0 regelrecht gedemütigt.

Überhaupt sieht es für die großen Teams aus Rio de Janeiro in dieser Saison äußerst trübe aus. Fluminense ist der einzige Verein, der eine Mannschaft zusammengestellt hat, die Ambitionen auf sportlichen Erfolg rechtfertigt. Aber auch dort hat die Verpflichtung von Romário sich noch nicht ausgezahlt. Flamengo hat in der letzten Woche im Bemühen um die Verpflichtung von Paulo Rink selbst gegenüber Energie Cottbus den Kürzeren gezogen. Gemeinsam mit Botafogo und Vasco dümpeln sie in der Abstiegszone herum.

Ganz schlimm hat es dieses Jahr mit Palmeiras auch einen der Großen aus São Paulo erwischt. Das Team um den Weltmeistertorwart Marcos hat den schlechtesten Saisonstart aller Zeiten hingelegt. Von allen 26 Mannschaften hat der viermalige Titelträger die meisten Tore kassiert, weist die schlechteste Tordifferenz auf und liegt folgerichtig auf dem letzten Platz.

Mit dem Tabellenführer Juventude verbinden Palmeiras nur noch die Vereinsfarben Grün und Weiß sowie die Tatsache, dass beide in den neunziger Jahren von Parmalat gesponsert wurden. Mit dem Ausstieg von Parmalat Ende des Jahres 2000 setzte auch der Abstieg von Palmeiras ein. Zurzeit versucht das Präsidium den freien Fall durch das Engagement von Psychologen und einen Maulkorb für die Spieler zu stoppen, um nicht noch mehr Unruhe in den Verein zu bringen.

Ob die beiden Maßnahmen miteinander harmonieren, mag man bezweifeln. Denn der erste Psychologe, der sich um das Team kümmerte, kritisierte prompt das von der Vereinsführung verhängte Redeverbot. Dadurch werde ja die Kommunikation zwischen Fans und Spielern gestört.