Ken Loachs »The Navigators«

Der Kapitalismus ist kein Bummelzug

Ken Loachs neuer Film »The Navigators« schildert, wie sich die Privatisierung der British Railways auf die Arbeitsbedingungen auswirkt.

Englische Eisenbahner haben nicht den besten Ruf. Die Züge der inzwischen zerschlagenen British Railways kommen notorisch zu spät, sind kaputt und extrem fahrgastfeindlich. Regelmäßig kommt es zu gravierenden Unfällen mit tödlichem Ausgang. Der Grund dafür wird in der Privatisierung des Unternehmens gesehen, die Mitte der neunziger Jahre begann. Die britischen Bahnen seien die ineffizientesten und gefährlichsten in Europa, stellte unlängst die Bahnkritikerin Ann Pettifor von der NGO Jubilee 2000 bei der Kölner Großdemo von Attac und Gewerkschaftsjugend am 14. September fest, wohl aber für ihre Besitzer äußerst profitabel.

Kündigungen, Rationalisierungen und Betriebsumstruktierungen sind auch immer wieder Gegenstand des populären Films, wobei das Wort »populär« hier lediglich meint: Die Filme laufen ab und an im Kino. Preisgekrönte Werke wie etwa »Ressources humaines« von Laurent Cantet, einen Film, der die betriebswirtschaftlichen Folgen liberaler Marktausrichtung thematisiert, sahen in Deutschland nur 6 500 Zuschauer; »Bread and Roses«, Ken Loachs Appell für den gewerkschaftlichen Arbeitskampf, sahen immerhin 34 000. Das sind dann aber auch schon die Spitzen: Die Kritik begeistert sich in der Regel, dem Kinopublikum hingegen sind solche Filme schnuppe. Das Kino ist eine Illusionsbude, und man wird nicht gern an das erinnert, was man jeden Tag selbst erlebt. Deshalb fragte das Magazin konkret zum Start von »Bread and Roses«, für wen so etwas eigentlich gedreht wird; für diejenigen, die die Organisation eines Putzfrauenstreiks etwas angeht, doch bestimmt nicht.

Andererseits könnte man auch fragen: Braucht ein Film überhaupt ein Publikum, oder kann er auch als Statement zur Zeit bestehen? Der britische Regisseur Ken Loach jedenfalls hält z.B. ein Unternehmen wie die Bahn für ein publikumsfähiges Sujet. Seinen neuen Film »The Navigators« lässt er im Sheffield des Jahres 1994 spielen. Am Tag nach der Privatisierung der Britischen Eisenbahn werden auf dem Betriebsgelände die Firmenschilder ausgewechselt. Wie immer, wenn es im Arbeiterfilm ungemütlich wird, fährt das dicke Auto vor, aus dem die Typen in den Anzügen steigen. In diesem Fall die neue Geschäftsführung von British Railways. Wir sind jetzt alle ein Team, lässt der neue Chef per Video bescheiden, woraufhin die einen Witze reißen und die anderen einem gerechten Schlaf frönen. Doch die neue Unternehmenskultur ist unwiderruflich da. Und dazu zählt, dass die Arbeiter abgefunden werden, wenn sie kündigen, auf jeden Fall aber wird ihre Arbeitsleistung privatisiert. Sie arbeiten nun für Subunternehmer und werden tageweise an die Baustellen ausgeliehen. Das Ziel ist es, eine ständige Auslastung der Arbeitskraft zu erreichen. Das Ausbesserungswerk in South Yorkshire, in dem die Filmprotagonisten Paul, Mick, Jim, Len und Gerry arbeiten, steht auf der Abschussliste. Auch der Reinigungsdienst wird privatisiert. Wischmob und Eimer sind ab sofort zur Arbeit mitzubringen, alle sechs Monate muss die einzige Reinigungskraft ein »Angebot« unterbreiten - vielleicht gibt es ja kostengünstigere Dienstleister.

Nicht jeder hat es gleich drauf, das unternehmerische Neusprech, und nicht jeder begreift gleich, dass er jetzt selbst ein Unternehmer ist. Und während man sich noch um die Einführung der Sonntagsschicht streitet, wird eines immer klarer: die neuen Leistungsstandards lassen sich nur einhalten, wenn die Sicherheitsauflagen permanent unterlaufen werden. Nur so ist die Konkurrenz zu schlagen, denn die Eisenbahn besteht jetzt aus mehreren Gesellschaften, die sich gegenseitig Aufträge abspenstig machen. Vernachlässigte Sicherheit ist gefährlich, das weiß auch die Geschäftsleitung. Und weist daher ihre Arbeiter an, darauf zu achten, dass die »Todesrate eine bestimmte Zahl nicht überschreiten darf«. Schon bald aber ist das nicht mehr zu gewährleisten: Der erste Streckenposten ist überfahren, das Unglück muss als Autounfall getarnt werden. Die Untersuchung verschwindet in der Schublade, die Beweislast auf dem Friedhof. Die gepriesene Effektivität, sie funktioniert einfach nicht. Alle ein Team? Eine dreiste Lüge.

»Das Kino ignoriert im Allgemeinen die Arbeitswelt, obwohl sich dort das halbe Leben der Menschen abspielt«, sagt Ken Loach. »Die Arbeiter sind gezwungen, untereinander in Wettbewerb zu treten. Genau das geschieht in fast allen Industrien Europas.«

»The Navigators« ist abgespecktes Loach-Kino, spröde und rudimentär, gedreht nach den Aufzeichnungen des ehemaligen Transportarbeiter-Gewerkschafters Rob Dawber. Die Bahnarbeiter sind wenig individuell gezeichnet. Loach ist darum bemüht, sie als funktionierendes Arbeitskollektiv zu zeigen, das sehr schnell auseinanderfällt, weil Solidarität auch nicht mehr als ein Wert unter vielen ist: Die Männer kommen gegen die Welt eben nicht an, sie kamen eigentlich nie zurecht mit ihr. Nun wird ihnen die gemeinsame Arbeit genommen, deren Tagesablauf in gewisser Weise das Familienleben ersetzt hatte. Die partikularisierende neue Scheinselbstständigkeit nimmt ihnen den Rest an Lebensqualität. Wir haben ja auch viel gefaulenzt, kommentiert einer die Verschärfungen am Arbeitsplatz; das ist doch nicht wahr, kontert der Schichtführer. Es ist, als hätten sie jetzt erst den Ernst des Arbeitslebens begriffen. Die neue Welt ist für Loach ein Ort ohne jedes Rückzugsgebiet.

Und er erlaubt ihr nicht mal einen Ort in der Kunst. Was sich Ken Loach sonst immer als Sozialkolorit erlaubt - Liebe, Frauen, Gewerkschaft - kommt hier nicht groß vor; und wenn doch, dann lieblos in Szene gesetzt. Die Liebe reicht für einen Abend in der Disko, Frauen machen Terror beim Jugendamt. Und die Gewerkschaft wurde vom Firmengelände gejagt; mit der fortschreitenden Zerschlagung des Unternehmens vergeht auch ihre Macht. Die individuellen Bindungen, die es unter den Bedingungen des Großkonzerns gegeben haben mag, lösen sich, nicht nur die zwischen den Arbeitern, sondern auch in den Familien.

Mit der Wandlung der Arbeiterschaft in einen Dienstleistungsfaktor fallen alle menschlichen Kategorien flach. Da wird selbst der seelen- und hirnlose Sektionschef zum Sympathieträger, weil er mit seinen unbeholfenen Versuchen, die neue Ordnung durchzusetzen, wie eine tragische Figur aus dem letzten Jahrhundert wirkt. Ein Kasper, der sich tatsächlich noch für die Kollegen interessiert.

Tragik gibt es nicht mehr; an ihre Stelle tritt eine Scheinrationalität, die in Echtzeit Leben kostet. Die Privatisierung der Bahn war nur der erste Schritt zur Vermarktung öffentlicher Dienste, sei es Stromzulieferung, öffentlicher Nahverkehr oder Wasserwirtschaft. Seit Februar 2000 wird unter dem Dach der Welthandelsorganisation WTO über das Dienstleistungsabkommen Gats (General Agreement on Trade in Services) verhandelt. Liberalisierungen sollen - neben den genannten Bereichen - bei Medien, Tourismus, Banken, Versicherungen, Bildung, Gesundheit und Kultur möglich sein. Und wie die Gesundheitsversorgung nach einem Bahnunfall dann aussehen wird, kann man sich nach »The Navigators« gut vorstellen. Wie realistisch, wie deprimierend.

Und auch wenn man Ken Loachs Perspektive des mitfühlenden Konservatismus nicht teilt, der darin besteht, dass er immer mal wieder den Glauben an einen idealtypischen Zustand der Arbeiterbewegung durchscheinen lässt: Bis eine irgendwie geartete wirkungsvolle Macht gegen die neoliberalen Strategien des Kapitals aufgebaut werden kann, dürfte noch einige Zeit vergehen. Schon deshalb, weil die Gesetze der kapitalen Verwertung schnell in den Köpfen derer sind, zu deren Ungunsten sie arbeiten.

»The Navigators« zeigt, wie ein Kollektiv von Arbeitern auseinanderbricht oder übereinander herfällt und den Tod des Kumpels aus Angst um den Arbeitsplatz zum Unfall umlügt. Privatisierung bedeutet in »The Navigators«: Wirklichkeit minus Unfallversicherung. Und nicht nur da. Das mag ineffizient sein, aber für die Aktionäre äußerst profitabel.

1999, nach einem schweren Zugunglück in London, bei dem 40 Menschen starben und Hunderte verletzt wurden, fragte der Guardian: »Hat die Privatisierung die Sicherheit des Eisenbahnnetzes aufs Spiel gesetzt?« Wegen geringer Summen soll an der Signaltechnik gespart worden sein. Bahnkritische Initiativen sprechen in Zusammenhang mit den häufigen Unfällen in England von katastrophalen Zuständen, englische Staatsanwälte von geschäftsmäßiger Tötung. An der Privatisierung der Bahn haben sich etliche Firmenbosse goldene Nasen verdient, während die Bezüge der Angestellten sanken.

Flexibilität, das lernt man in diesem Film, ist garantiert kein Heilmittel, sondern bedeutet den sozialen Abstieg.

»The Navigators«, GB 2001. R: Ken Loach, D: Joe Duttine, Thomas Craig, Dean Andrews. Start: 10. Oktober