Johannes Holzhausens »Auf allen Meeren«

Strandgut der Geschichte

»Auf allen Meeren« war der sowjetische Flugzeugträger »Kiew« einst zuhause. Ein neuer Dokumentarfilm zeigt, was aus dem ehemaligen Stolz der UDSSR geworden ist.

Ein Mann und sein Sohn blicken aufs Meer, am Horizont zeichnet sich der Umriss eines Schiffes ab. Mit diesem Bild beginnt eine Geschichte, die so oder zumindest so ähnlich tatsächlich passiert ist, obwohl ihre Einleitung eher der eines Märchens entspricht: »Es war einmal ein riesengroßes Kriegsschiff, ein unvergleichliches Schiff.«

Erzählt wird die »Legende« des Flugzeugträgers »Kiew«, der einmal der größte der gesamten sowjetischen Flotte war, ein geradezu hypertrophes Modell im Wettrüsten des Kalten Kriegs. Nach dem Zerfall der Sowjetunion hatte das Schiff ausgedient und war seit 1994 ein schrottreifer Ladenhüter. Erst fünf Jahre später erbarmte sich China, kaufte den Kutter und ließ ihn überführen.

Diese Reise nutzte der österreichische Dokumentarfilmemacher Johannes Holzhausen, um die »Kiew« zu begleiten. Sie gibt seinem Film »Auf allen Meeren« jedoch nur den Rahmen vor, dient ihm als Anlass, eine Rückschau auf die Ära des Kalten Krieges zu halten. Dabei bedient sie sich der Erinnerungen einstmals auf dem Flugzeugträger dienender Soldaten.

Während ihren Erzählungen erhält die »Kiew«, dieses Wrack, das sozusagen aus der Geschichte ausgegliedert wurde, die Funktion einer Projektionsfläche. So wenig spektakulär das Schiff wirkt, mit seinen großräumigen Hallen, die nun leer stehen und in denen der Rost an den Wänden nagt, so sehr wird nun an ihm die Geschichte der UdSSR von neuem ablesbar. Das, wofür der Flugzeugträger steht, ist genauso heterogen wie die Aussagen der Menschen, die sich erinnern.

Es wird deutlich, dass er für alle das Symbol einer überschaubaren Weltordnung ist, in der man die eigene Funktion in einer strengen Hierarchie genau kannte und ein konkretes Feindbild zur Steigerung des Kollektivgefühls vor Augen hatte. Mit dem Ende der Sowjetunion wurde das Schiff allerdings zum Objekt nostalgischer Verklärung, aber auch zum Sinnbild für eine neue Weltordnung, in der die Symbole der alten nur noch lästiger Schrott sind. Somit durchzieht auch die Biografien der meisten Matrosen der »Kiew« ein Riss.

Holzhausen begegnet den Menschen - vom Kapitän, der jetzt Bademeister ist, bis hin zum Marinemaler, der Gemälde von Schlachten pinselte, die während des Kalten Kriegs glücklicherweise ausblieben - mit vorsichtiger Zurückhaltung. Sein Interesse gilt vor allem ihren emotionalen Bindungen an das Schiff.

Besonders darin unterscheidet er sich von Hartmut Bitomskys vor kurzem in deutschen Kinos angelaufenem Film »B-52«, dessen Blick auf den US-Bomber analytischer und auch kühler ausfiel. Dennoch ist der Vergleich von »Auf allen Meeren« mit »B-52« spannend. Vor allem bei der Frage nach dem Fortbestehen beziehungsweise der Weiterverwertung von Kriegsgeräten.

Wo Bitomsky einen umfassenden Recycling-Prozess anschaulich macht, in dem das Alte fortlaufend zu Neuem wird, sei es als Kunstwerk oder als schlichte Umarbeitung von Material, fokussiert Holzhausen einerseits den Prozess des Verfalls, das Rosten; andererseits aber zeigt er, wie einzelne Teile der »Kiew« immer noch wie reliquienartige Objekte gehortet werden.

An solchen Gegenständen, die ehemalige Matrosen der »Kiew« als kleines Souvenir mitnahmen, materialisiert sich förmlich das Gedächtnis. Behutsam holt man das »Kiew«-Teeservice aus der Vitrine hervor oder rollt würdevoll die löchrige Flagge nochmals auf; es sind allesamt haptische Begegnungen, die auch die Erinnerung an die Dienstzeit wiederkehren lassen. Den Figuren fehlt zwar die ironische oder auch reflexive Distanz der Künstler in Bitomskys Film, aber deswegen sind sie noch lange keine konservativen Hardliner, die einer vergangenen Epoche nachtrauern.

In »Auf allen Meeren« geht es vielmehr um ein generelles Sinndefizit in einer neuen Zeit und damit um ein existenzielles Phänomen. Ein ehemaliges Besatzungsmitglied wurde etwa durch ein metaphysisches Erlebnis auf See bekehrt und ist nun Priester. Andere können bloß auf weniger geglückte Umsattelungsversuche verweisen, die zumeist am männlichen Selbstwertgefühl gekratzt haben, schließlich war man einmal Held der Sowjetunion.

Holzhausen nähert sich diesen Lebensläufen nicht ohne Humor, aber immer mit Respekt. Der frühere Kapitän und heutige Bademeister etwa dreht dauernd an einer Uhr in seinem Bad, die immer wieder nachgeht. Ein äußerst symbolträchtiges Bild, eine dezidiert politische Bewertung wird jedoch ausgespart.

»Dieses Bewahrenwollen«, so sieht es Holzhausen, »ist etwas zutiefst Menschliches. Es gibt keine Kontinuität für diese Leute, Erinnerung wird vielmehr zum Versuch, die Löcher zu flicken, eine Kontinuität beweisen zu wollen, die gar nicht mehr da ist.«

Ein Rest der Aura, die das Schiff einmal umgab, samt der Verheißung einer glücklichen Zukunft, vermittelt sich durch Archivaufnahmen aus Spiel- und Schulungsfilmen und durch private Super-8-Aufzeichnungen, in denen die »Kiew« wieder wie geisterhaft belebt erscheint. Menschliche Silhouetten zeichnen sich vor Maschinen ab, ein Chor von rotbackigen Sängerinnen steigt aus dem Inneren des Flugzeugträgers und flirtet mit der männlichen Besatzung. Am Horizont tauchen schattenhafte Umrisse eines US-Schiffes auf, gefilmt von einem Soldaten, der den Feind nur aus der Distanz zu sehen bekam.

Im Vorspann von Holzhausens Film sieht man Auszüge aus einer Wochenschau der siebziger Jahre, in denen die »Kiew« wie ein Traumschiff wirkt, samt reichlich gedeckten Tischen. Mit einem westlichen Blick betrachtet, wirkt das alles fast schon wieder chic. Dazu ist auf der Tonspur ein beständiges Rumoren, eine Art fernes Echo, zu vernehmen: »Das Lied der 'Kiew'«, wie Holzhausen und sein Cutter und Sounddesigner Michael Palm diese Erkennungsmelodie des Flugzeugträgers tauften. Das ganze Archivmaterial wurde mit diesem Rumoren, das auch gut zu einem Science-Fiction-Film passen könnte, bewusst verfremdet, um die phantastische Dimension der Technologie und damit den Kontrast zum Menschen noch stärker hervorzuheben.

Das Requiem, das die »Kiew« dann aber in ihre neue Bestimmung begleitet, besteht allerdings aus gesungenen Liedern. Auf einer Militärakademie schmettert ein Kadett noch ein Lied vom Krieg, die nächste Strophe gehört schon den Chinesen, die sich während der Schiffsüberführung, wenn nicht gerade schaulustige Besucher der norwegischen Küstenwache an Bord sind, die Zeit mit Karaoke vertreiben.

Die letzte Fahrt des Flugzeugträgers hat ein Ziel. Dieses Mal kommt er nicht bloß in einem fernen Hafen, sondern vor allem in der Ära des Spektakels an. Das Ende von »Auf allen Meeren« lässt für die »Kiew« ein ähnliches Weiterleben vermuten, wie es für ihre Vorgängerin, die »Minsk« bestimmt war. Die »Kiew« wird als »Kiew-World« enden, als historischer Themenpark mit Bars, einem Imbiss und Attraktionen für die Genossen der letzten verbliebenen kommunistischen Großmacht.

»Auf allen Meeren«, Österreich/Schweiz/Deutschland 2001. R: Johannes Holzhausen. Start: 17. Oktober