Was wird aus den Benes-Dekreten

Zu früh gefreut

Die Tschechische Republik kämpft gegen die Kampagne zur Annullierung der Benes-Dekrete.

Durchweg positive Reaktionen waren aus Prag zu hören, als Ende September das offizielle Gutachten des deutschen Völkerrechtlers Jochen Frowein zu den so genannten Benes-Dekreten vorlag. Es unterstreiche die Position der Tschechischen Republik, wonach die Dekrete kein Hinderungsgrund für den Beitritt zur EU seien, erklärte der Vorsitzende des außenpolitischen Parlamentsausschusses, Vladimir Lastuvka. Auch den Außenminister Cyril Svoboda erfreute das Gutachten, das viele für einen Schlusspunkt unter die unsägliche Kampagne gegen die europäische Nachkriegsordnung hielten.

Inzwischen ist diese Hoffnung verflogen. Die Kräfte, die die Tschechische Republik zur Annullierung der Benes-Dekrete noch vor dem EU-Beitritt zwingen wollen, haben ihre Schlussoffensive gestartet. Ihre nächste Etappe ist eine Sitzung des außenpolitischen Ausschusses des Europaparlaments, der sich am 21. Oktober mit den Dekreten beschäftigen will. Der Stellungnahme des Ausschusses wird eine hohe Bedeutung für das abschließende Votum des Europaparlaments zugeschrieben, das wiederum der Tschechischen Republik den Beitritt verweigern kann.

Wenn der außenpolitische Ausschuss des Europaparlaments unter der Leitung seines deutschen Vorsitzenden Elmar Brok über die Dekrete debattieren wird, dann wird er das nicht nur auf der Grundlage des Gutachtens von Frowein tun. Inzwischen sind drei Gegengutachten aus Deutschland an die zuständigen EU-Stellen übergeben worden, ein weiteres Gegengutachten aus Österreich wurde angekündigt. Allesamt von angeblich unabhängigen Rechtsexperten erstellt, sollen sie die Tschechische Republik zur Annullierung einiger Gesetzestexte von Verfassungsrang zwingen.

Eines der Gutachten, von der bayerischen Staatskanzlei in Auftrag gegeben, stammt direkt aus dem Dunstkreis der außenpolitischen Think tanks der europäischen Hegemonialmacht. Zur »Wahrung deutscher Positionen und Interessen« sei es erforderlich, »dass die Bundesregierung im Rahmen des Beitrittsprozesses von der Tschechischen Regierung fordert, die Vertreibung als Unrecht anzuerkennen«, wird aus dem Gutachten zitiert. Sein Autor, Rudolf Dolzer, arbeitet im Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, einer einflussreichen Organisation, in der AußenpolitikerInnen und Prominente der Wirtschaft die Leitlinien der deutschen Außenpolitik debattieren.

Das zweite Gutachten, ebenfalls im Auftrag der bayerischen Staatskanzlei erstellt, droht Tschechien indirekt mit Nationalitätenkonflikten. Das »Festhalten an den Benes-Dekreten«, so wird der Autor Martin Nettesheim zitiert, richte sich »in schärfster Weise gegen das Miteinander verschiedener Nationalitäten«. Sollte die Tschechische Republik auf der Gültigkeit der Benes-Dekrete beharren, dann - so muss Nettesheim wohl verstanden werden - würden von den Sudetendeutschen geschürte Konflikte mit der tschechisch sprechenden Bevölkerung zu Lasten der Tschechischen Republik gehen.

Das dritte »unabhängige« Gutachten stammt direkt von den deutschen Vertriebenen. Verfasst wurde es im Auftrag der Sudetendeutschen Landsmannschaft von Dieter Blumenwitz, einem Träger verschiedener Auszeichnungen der Vertriebenen, der sich seit Jahrzehnten im Rahmen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, einem Think tank der Vertriebenen, um die völkerrechtliche Formulierung deutscher Ansprüche auf die »Ostgebiete« kümmert.

Wie der außenpolitische Ausschuss des Europaparlaments am 21. Oktober entscheiden wird, ist derzeit nicht abzusehen. Im Europaparlament verfügen die AnhängerInnen einer harten Linie gegenüber der Tschechischen Republik über eine starke Lobby. Bereits im April des Jahres 1999 forderte das Parlament die Aufhebung der Benes-Dekrete.

Die tschechische Regierung entfaltete rege diplomatische Aktivitäten gegen die revanchistische Offensive. Der Außenminister verhandelte in den vergangenen Tagen mit dem Vorsitzenden des außenpolitischen Ausschusses des Europaparlaments und mit Vertretern der dänischen EU-Ratspräsidentschaft; er deutet inzwischen erste Zugeständnisse an. Tschechien sei bereit, so Svoboda, sein »Bedauern« über die Folgen der 1945/46 erlassenen Dekrete auszudrücken. Eine Entschuldigung, an die Entschädigungsforderungen anknüpfen könnten, lehnt er selbstverständlich ab.

Ob das ausreicht, um eine Annullierung der Dekrete dauerhaft zu verhindern, ist höchst fraglich. Zu stark ist jetzt schon der Einfluss des übermächtigen Nachbarn. Deutschland ist mit Abstand der wichtigste Handelspartner und der bedeutendste Direktinvestor, die wichtigsten tschechischen Zeitungen befinden sich im Besitz deutscher Verlage. Die Vertriebenen machen entsprechende Fortschritte. Vor wenigen Wochen erst wurde unter deutschem Druck im nordtschechischen Teplice nad Metuji ein Denkmal enthüllt, das die Sudetendeutschen als Opfer tschechischen Unrechts darstellt. Seit Juli ermittelt die Staatsanwaltschaft aus dem bayerischen Hof in der Tschechischen Republik wegen angeblicher Verbrechen an der Menschheit im Verlauf der Umsiedlungen.

In der Hoffnung, vielleicht werde doch alles nicht so schlimm kommen, fragte die tschechische Nachrichtenagentur CTK Ende September Politiker der rot-grünen deutschen Regierungskoalition nach ihren Plänen gegenüber der Tschechischen Republik. Sie wurde bitter enttäuscht. In Zukunft müsse »auch die tschechische Seite voranschreiten«, bekamen die Journalisten zu hören; die »Notwendigkeit einer offenen und selbstkritischen Diskussion in Tschechien« wurde drohend hervorgehoben. Dass der deutsche Innenminister im Mai die Annullierung der Benes-Dekrete forderte, gerät allzu leicht in Vergessenheit.

Die tschechische Regierung jedoch ist sich offenbar im Klaren, dass die deutsche Außenpolitik auch in ihrer rot-grünen Gestalt letztlich die Annullierung der Dekrete will. Um der EU beitreten zu können, muss das Land eine Reihe von Hoheitsrechten nach Brüssel abgeben, mit denen es jetzt noch die Dekrete verteidigt; die Schwächung des tschechischen Nationalstaats, so das Berliner Konzept, wird die Tschechische Republik der europäischen Hegemonialmacht Deutschland unterwerfen. In der vergangenen Woche suchte deshalb der tschechische Ministerpräsident in Paris die Unterstützung derjenigen Macht innerhalb der EU, von der vielleicht am ehesten Widerstand gegen die deutsche Vormacht zu erhoffen ist. Er bot dem französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac einen Ausbau der tschechisch-französischen Wirtschaftsbeziehungen an.