Ich krieg die Krise

Drohen nun Typhus, Pocken und Skorbut? Eine Gewinnwarnung an die Ich-AG.

Krise? Welche Krise? Solange ich mich erinnern kann, ungefähr seit 1970, haben wir schon die Krise. Erst hieß es, es gibt zu viele Schüler. Dann gab's zu viele, die eine Lehrstelle haben wollten. Anschließend gab es zu viele Abiturienten, dann zu viele Studenten. Jetzt soll Deutschland plötzlich in der Krise sein? Dass ich nicht lache. Bloß weil es den Yuppies an den Hals geht?

Aber mal Spaß beiseite. Es gibt tatsächlich Indikatoren für die Umverteilungsverluste der Deutschland AG. Ein Freund etwa ist der festen Überzeugung, mit der Hauptstadt gehe es bergab. Beweis: Berlin hat kein Geld mehr für die Beseitigung von Graffiti. Da werden nur noch die politischen abgewaschen, stinknormale Tags bleiben stehen. Mein Freund meint: »Und wenn man in Ostdeutschland rumfährt, hat man das Gefühl, man wäre in der Dritten Welt.« Dabei hat man auch in Düsseldorf das Gefühl, die Löcher in der Straße würden nicht mehr geflickt.

Wer in Berlin-Neukölln wohnt, hat damit indes keine Probleme. Der Bezirk war immer schon auf den Hund gekommen. Mein Lieblingsgraffiti an der Hauswand gegenüber hat deswegen jahrelang niemand angerührt: »Lesben! Bildet eure eigenen Banden.« Schon 1997 warnte der SPD-Politiker Heinz Buschkowsky, Neukölln weise eine neue Armut auf, die vor allem Kinder betreffe.

Womit wir bei den künftigen Jungmanagern, beim Nachwuchs, wären. Seit der Veröffentlichung der jüngsten OECD-Bildungsstudie ist er ein Thema, vor allem seine Blödheit. Neulich warnten die Gewerkschaften in Bayern, dass es Schüler in Oberfranken besonders schwer hätten. Die Ausbildungsbilanz sei grauenhaft. Der Tenor lautete: »Jeder Schüler braucht mindestens einen Hauptschulabschluss.« Und das in Zeiten der High-Tech-Wirtschaft! Wer soll eigentlich künftig die komplizierten Traktate in Medien wie der Jungle World lesen und verstehen?

Nein, der deutsche Sonderschulweg reicht in der Welt bestimmt nicht mehr aus. Den Leuten kommt nun schmerzhaft zu Bewusstsein, dass es uns bis 1989 wegen der Frontstellung gegen den Sowjetblock so gut ging. Die Amerikaner brauchten Platz, um Raketen aufzustellen. Aber die Party ist vorbei. Und so bleiben nur echt deutsche Krisenerscheinungen aus dem DDR-Sozialismus übrig, die mühelos in den rheinischen Kapitalismus integriert werden konnten. Die Krise ist hausgemacht, man sollte nicht immer alles auf die Globalisierung schieben. Es ist kein Zufall, dass die Klamotten in den deutschen H&M-Filialen neuerdings aussehen wie aus der Altkleidersammlung.

Dass Deutschland den Status eines Schwellenlandes innehat, unterstreicht auch eine Nachwuchsstudie des Münchner Instituts für Jugendforschung. Bei einer repräsentativen Umfrage gaben fast 20 Prozent der Jugendlichen an, ein Tampon könne ein geeignetes Verhütungsmittel sein. Ebenso meinten mehr als die Hälfte, dass man beim Petting nicht schwanger werden könne.

Auch über die richtige Anwendung der Anti-Baby-Pille wussten acht Prozent nicht Bescheid. Zur Art und Weise ihrer Einnahme gaben drei Prozent »einmal monatlich« an, zwei Prozent sagten »immer kurz vor dem Sex«, zwei Prozent »immer kurz nach dem Sex« und ein Prozent meinte »nach jedem Essen«. Bei der Umfrage waren im August dieses Jahres 536 Jugendliche im Alter von zwölf bis 16 Jahren befragt worden. Vielleicht waren sie ja auch nur zu blöd zum Ankreuzen. Aber auch das wäre ein weiterer Beleg für die Bildungskatastrophe.

Zu allem Überfluss befindet sich auch die Aktie der deutschen Sprache in einer Baisse. Dieser Tage gab der scheidende Präsident der Akademie für Sprache und Dichtung, Christian Meier, an der Kulturfront Alarm. Deutsche Wissenschaftler und Manager verständigten sich oft nur noch auf Englisch. Wenn aber nicht mehr auf Deutsch debattiert werde, verliere die Sprache die dafür notwendigen Worte: »Damit werden die Menschen sprachlos und können bei aktuellen politischen Themen, etwa der Gentechnik, nicht mehr mitreden.« Gut. Dann reden die Deutschen aber nicht mehr mit, und die Ausländer hierzulande sind sowieso nie zu ihrer Meinung befragt worden.

Also, alles wie gehabt? Neue Armut gleich alte Armut? Nein, definitiv nicht. Es gibt eine Armut, die völlig neu ist. Neulich war ich auf der Party eines Berliner Rechtsanwalts mit einer gut gehenden Kanzlei. 39. Geburtstag. Seine Frau arbeitet in der SPD-Parteischule. Keine Kinder. Wir mampfen fröhlich Chili. Nach dem zweiten Nachschlag sagt der Mann: »Ey, das reicht aber jetzt. Es kommen ja noch mehr Leute.«

Das ist mir noch nie passiert, wenigstens nicht in den letzten 39 Jahren. Dass man auf einer Party gesagt kriegt, man soll sich nicht am Partyessen vergreifen. Und das auch noch bei Doppelverdienern. Oder wissen die etwas, was wir nicht wissen? Es kommt noch viel schlimmer? Typhus, Pocken, Skorbut? Rabattmarken? Eine »Kriegserklärung an den Sozialstaat«, wie es Peter Vetter, der Präsident des Sozialverbands Deutschland, befürchtet? Oder gar Schiebebrotzeiten? Beim Schiebebrot legt man ein Stück Wurst aufs Brot und schiebt das beim Essen mit der Nase ans andere Ende. So spart man den Brotaufstrich.

Wegen dieses individuellen Krisengefühls - es geht mit allen abwärts, aber mit mir ganz besonders - treibt es immer mehr Leute zum Psychologen. Berlin ist nicht nur mit seinem Schuldenberg, sondern auch bei der Therapeutendichte Spitze. Zur Sanierung angeschlagener Ich-Betriebe empfehle ich einen Ansatz, wie er in der Verhaltenstherapie gängig ist. Da werden »bestimmte psychische Störungen und psychosomatische Erkrankungen auf Fehlentwicklungen in der Vergangenheit zurückgeführt. Jedoch beweisen wissenschaftliche Untersuchungen, dass die Fehlentwicklungen und ihr heutiges Problemverhalten keineswegs immer in der frühen Kindheit beginnen müssen, sondern auch durch spätere (Lern-) Erfahrungen entstanden sein können.« So erklärt's das Patienten-Info.

Wer also mit Helmut Kohl groß und mit Rot-Grün alt geworden ist und keine wertkritische Selbsterfahrungsgruppe sein eigen nennt, muss sich beim Zählzwang und bei Rückenschmerzen nicht mehr mit den Eltern rumschlagen. Zur Abhilfe empfehlen Experten ein Verfahren, das auf den Namen »kognitive Therapie« hört. Dabei wird versucht, die negativen Reaktionen des Körpers mit entgegengesetztem Denken zu beeinflussen. Anders gesagt: Gegen soziale Kälte helfen immer noch warme Gedanken. Das könnte bei wirtschaftlichen Depressionen aller Art wirken.

Also, schöne Grüße an die Chefetagen in den Ich-AGs! Brummt der Bauch, kann man sich immer noch einbilden, wie satt man ist. Und schon gibt der Magendarmtrakt Ruhe. Das Schöne ist, bei psychisch Lädierten zahlt das die Krankenkasse. Noch. Nichts wie hin also, so lange es noch geht! Bald ist nicht nur Weihnachten, sondern auch Gesundheitsreform.