Neue Erklärung von bin Laden

Ein Platz an der Sonne

Die Botschaft verzichtet auf subtile theologische Argumente. »Ihr werdet getötet, so wie ihr tötet«, drohte Ussama bin Laden in einer am Dienstag der vergangenen Woche vom arabischen Fernsehsender al-Jazeera ausgestrahlten Rede »den Völkern der mit der tyrannischen US-Regierung verbündeten Länder«.

Experten halten das Tonband für wahrscheinlich authentisch. Wie in vorangegangenen Erklärungen übernimmt bin Laden keine direkte Verantwortung für die von ihm gelobten Terroraktionen in Tunesien, Kuwait, Russland, Pakistan und im Jemen, die er »enthusiastischen Söhnen des Islam« zuschreibt. Diese Zweideutigkeit erlaubt es, sich weiterhin als unschuldig, zugleich aber als Avantgarde einer weltweiten Bewegung zu präsentieren.

Außer im Fall der Geiselnahme in Moskau ist die Verantwortung des Netzwerks al-Qaida für die von bin Laden genannten Anschläge sicher oder wahrscheinlich. Mit anderen Worten, die Aktivitäten der al-Qaida haben sich seit dem 11. September 2001 immens verstärkt, während die wichtigsten Führer des Netzwerks noch auf freiem Fuß sind. Keine gute Bilanz nach mehr als einem Jahr »Krieg gegen den Terror«.

Allerdings spricht nichts dafür, dass andere Strategien größeren Erfolg gehabt hätten. Eine juristische Verfolgung der Führer der al-Qaida gestaltet sich mangels vorladungsfähiger Addressaten schwierig. Auch die häufig als Mittel gegen den Terrorismus empfohlene Erhöhung des westlichen Entwicklungshilfeetats dürfte bin Laden nicht beeindrucken. Denn der Terror der al-Qaida ist keine Folge der wachsenden Verelendung, sondern im Gegenteil einer des wachsenden Reichtums mancher Teile der so genannten Dritten Welt. Nicht zufällig finden sich die organisatorischen Wurzeln und finanziellen Quellen des Netzwerkes vor allem in Saudi-Arabien.

Warum sollte es nicht möglich sein, den Bevölkerungsreichtum Ägyptens, die Atombomben Pakistans und den Ölreichtum Saudi-Arabiens zu einer Weltmacht zusammenzuschließen, fragen sich ehrgeizige Söhne der islamischen Oligarchie. Zunächst wollen sie die »ungläubigen« nationalen Eliten von ihren westlichen Schutzmächten trennen. Und da in den USA sowohl die Regierung als auch die Mehrheit der Bevölkerung entschlossen sind, den »Krieg gegen den Terror« fortzusetzen, konzentriert man sich auf Staaten, in denen diese Entschlossenheit weniger ausgeprägt ist.

Nach dem vorläufigem Verschwinden jeder Alternative zum Kapitalismus dürften eine wachsende Konkurrenz zwischen den westlichen Staaten und der Aufstieg neuer Weltmächte das 21. Jahrhundert bestimmen. Das wäre eine Situation, die trotz aller Unterschiede an die Phase des klassischen Imperialismus erinnert. Damals breiteten sich rechtsextreme Ideologien insbesondere in den »verspäteten Nationen« wie Deutschland und Italien aus, die sich um ihren »Platz an der Sonne« betrogen fühlten. Ähnliche Motive treiben die Terroristen der al-Qaida an.

Eine natürliche Tendenz zur Bildung von Imperien gibt es jedoch nicht. Obwohl al-Qaida antisemitische und antiwestliche Ressentiments aufzugreifen versucht, werden ihre Methoden und ihr Programm von einer großen Mehrheit der Muslime abgelehnt. Diese Isolation allerdings hat das Netzwerk durch die geschickte Verwendung der Medien soweit kompensiert, dass es mit seinen höchstens 10 000 Mitgliedern als unverwundbarer global player erscheint. Denn militärische Reaktionen sind im Rahmen der Eskalationsstrategie erwünscht, Zugeständnisse des Gegners werden als Zeichen der Schwäche und als Ermutigung aufgefasst.