Die Meute aus der Mitte
Die Krise der rechtsextremen FPÖ in Österreich kann nicht darüber hinwegtäuschen: Rechte, rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien, nicht wenige davon nach dem Vorbild von Jörg Haiders Freiheitlichen geformt, sind in Europa seit Jahren auf dem Vormarsch. Die europäischen Staaten, in denen eine solche Partei keine wichtige Rolle spielt, lassen sich an einer Hand abzählen. Längst stehen konservative und liberale Parteien Koalitionen mit der extremen Rechten aufgeschlossen gegenüber, solange sie nur die Macht erhalten können.
Nachdem Wolfgang Schüssel in Österreich diesen Weg beschritten hatte, wagte man ein solches Experiment auch in den Niederlanden. Nach dem schnellen Ende des Regierungsbündnisses mit der extremen Rechten wird wohl zumindest die xenophobe Ausländerpolitik übrig bleiben. In Dänemark versucht die bürgerliche Regierung, mit einer extrem immigrantenfeindlichen Politik der dänischen Volkspartei das Wasser abzugraben, sie würde aber, sollte ihr das nicht gelingen, auch vor einer Koalition mit dieser Partei nicht zurückschrecken. In Norwegen und der Schweiz treiben Rechtspopulisten die bürgerlichen Regierungen vor sich her. In Frankreich hat sich die extreme Rechte von ihrem Formtief gut erholt und wurde bei den Präsidentschaftswahlen zur zweitstärksten Kraft. Italien wird von einem Bündnis aus sechs Parteien regiert, dessen drei tonangebende allesamt rechtspopulistisch bis rechtsextrem sind.
Großbritannien, das dem Augenschein nach frei von solchen Parteien zu sein scheint, war mit der Regierung unter Margaret Thatcher Anfang der achtziger Jahre sogar der Vorreiter der neuen Bewegung. Thatchers latente Staatsfeindlichkeit bei gleichzeitigem Nationalismus, ihre Verteidigung des Neoliberalismus ausgerechnet im Namen all der überkommenen Werte, die er unaufhaltsam zerstört, sind bis heute das Vorbild für autoritäre Populisten in ganz Europa.
In zahlreichen Staaten kopieren traditionsreiche konservative, liberale und sozialdemokratische Parteien die Erfolgsrezepte der neuen Rechten. In Spanien und Griechenland kokettieren die Regierungsparteien mit der Sprache der früheren Militärdiktaturen und schaffen es so, eine populistische Opposition im Keim zu ersticken. In den EU-Erweiterungsländern Mittel- und Osteuropas argumentieren die vor zehn bis zwölf Jahren neu gegründeten konservativen Parteien populistisch, während sie ihrerseits von extrem xenophoben und antisemitischen, oft agrarisch orientierten Parteien flankiert werden.
Gemeinhin gilt Populismus als eine politische Strategie, die dem Volk aufs Maul schaut und ihm nach demselben redet. Bliebe es dabei, dann gäbe es keinen besonderen Rechtspopulismus, der sich vom gewöhnlichen Populismus unterschiede. Tatsächlich setzen Populisten wie Haider oder seine dänische Wiedergängerin Pia Kjaersgaard aber eigene Themen, die dann dankbar von der Bevölkerung aufgegriffen werden und lassen Hemmungen verschwinden.
In die Irre führen Deutungsmuster, die den autoritären Populismus als Aufstand der Modernisierungsverlierer zu erklären suchen. Dagegen spricht nach Ansicht Michael Ehrkes, der das Phänomen im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung untersucht hat, schon die Rhetorik der populistischen Führungsgestalten, die nicht die Probleme benachteiligter Bevölkerungsgruppen aufgreift, sondern an »die Selbstzufriedenheit der Arrivierten« appelliert.
Ehrke spricht von einer »Meuterei der Besitzstandswahrer«, betont aber hinsichtlich der rechtspopulistischen Rhetorik: »Die innergesellschaftlichen Gegensätze werden wie im traditionellen Faschismus übertüncht bzw. durch ein symbolisches Konstrukt fiktiver Kollektivität ersetzt.« Die Bezugsgröße ist »das Volk«, das als »Gemeinschaft der Anständigen«, als »die kleinen Leute«, als »die, die immer draufzahlen« definiert wird, was je nach Kontext unterschiedliche Konnotationen haben kann.
Nicht die Verlierer der Modernisierung sind es aber trotz dieser Zuschreibungen, die den rechten Demagogen hauptsächlich anhängen, sondern diejenigen, die es zu etwas gebracht haben, die sich diffus vom Fortschritt bedroht fühlen. Dieses Gefühl wird verstärkt durch den Übergang zur postindustriellen Gesellschaft mit niedrigen sozialen Standards, einem hohen Dienstleistungsanteil, hohen Anforderungen an Flexibilität und Mobilität sowie Massenarbeitslosigkeit, die zu einer dauerhaften Begleiterscheinung zu werden droht und potenziell den Großteil der Bevölkerung bedroht.
Joachim Hirsch und Roland Roth stellten schon 1986 fest, das Hauptkennzeichen des autoritär-populistischen Diskurses sei es, dass er »reale gesellschaftliche Konflikte und Klassengegensätze systematisch dethematisiert«. Populisten fordern nicht, was im objektiven Interesse ihrer Klientel läge, eine Milderung der Folgen des gesellschaftlichen Strukturwandels, sondern im Gegenteil die Aufkündigung sozialer Sicherungssysteme und einen von Steuerlasten befreiten Turbokapitalismus. Der Kern des Rechtspopulismus ist nach Ehrkes Auffassung »die Aufforderung, Hemmschwellen abzubauen, die die Rücksichtslosigkeit des nackten Egoismus moderieren könnten«.
Das stellt per se keinen Widerspruch zur herrschenden Ideologie des Neoliberalismus dar; es teilt mit ihm sogar eine Reihe struktureller Gemeinsamkeiten, wie es Ehrke feststellt: den Dualismus von Staatsfeindlichkeit und Nationalismus etwa, die Kombination von wirtschaftlich libertären mit politisch autoritären Motiven und das Ziel der Brutalisierung der sozialen Beziehungen. Der Rechtspopulismus führt aber den neoliberalen Gedanken nicht konsequent zu Ende, sondern bekämpft beispielsweise die Migration (die von reinen Neoliberalen begrüßt wird) und kann natürlich aus Rücksicht auf seine Klientel auch nicht gegen die Wahrung von Besitzständen auftreten. Wegen dieser Inkonsequenz spricht Ehrke vom »Neoliberalismus der dummen Kerls«.
Vier Hauptthemen werden von Rechtspopulisten in ganz Europa behandelt: Geschichtsrevisionismus, Rassismus, Partikularismus und eine Law-and-Order-Politik. Die partielle Verharmlosung der faschistischen oder nationalsozialistischen Vergangenheit spielt dabei eine besondere Rolle, denn von Joseph Goebbels und Benito Mussolini haben die Populisten die volkstümliche Art übernommen.
Ihre Programmatik verbindet die Volkstribunen mit den alten und so genannten neuen Rechten aller Couleur. Der Unterschied liegt im Erzählgestus. Wenn einer wie Haider spricht, dann sagen seine Mimik und Gestik, seine ganze Rhetorik, dass er ausspricht, was jeder seiner Zuhörer sagen würde, wenn er nur dürfte. Dass er es nicht darf, ist die Schuld aller anderen, »der etablierten Parteien«, der »Nachkriegsrepublik«, der »68er«, des »Tugendterrors«.
Insofern sind die Populisten in ganz Europa nicht schlicht »gegen das Establishment«, sie stellen vielmehr den reaktionärsten Teil dieses Establishments dar, dem sie gleichzeitig vorwerfen, sie mehr als 50 Jahre lang mit vorgeschobenen moralischen Argumenten an der freien Entfaltung gehindert zu haben. Daraus resultiert der erbitterte Hass der neuen Rechten auf die Parteien herkömmlichen Typs, von denen sie inhaltlich oft nur wenig unterscheidet.
Die talentiertesten unter den neuen Populisten - Haider in Österreich, Kjaersgaard in Dänemark und Christoph Blocher in der Schweiz - haben die Bedeutung dieses Gestus erkannt und legen großen Wert darauf, nicht selbst mit der jeweiligen Regierungspolitik assoziiert zu werden. Intuitiv haben sie begriffen, dass sie ihre Ziele ohnehin besser erreichen, wenn sie die anderen Parteien vor sich her treiben.
Trotzdem sollte man nicht den Fehler machen, wie in einigen Leitartikeln nach dem Desaster der niederländischen Partei Fortuyns (LPF) geschehen, zu fordern, Rechtspopulisten wo immer möglich an der Regierung zu beteiligen. Das Argument, sie würden so »entzaubert«, verbietet sich schon deswegen, weil zahlreiche Gegenbeispiele - darunter auch die FPÖ - zeigen, dass populistische Parteien, oder doch wenigstens Teile von ihnen, an der Regierung eine Transformation zu einer in erster Linie reaktionären Rechtspartei durchmachen können. Ob sie dieses Potenzial besitzen oder nicht, liegt vor allem an der Struktur des Parteiapparats und der Mitgliedschaft; ein weiterer Grund, warum man nicht von dem nur wenige Monate alten Wahlverein LPF auf die jahrzehntelang gewachsene und dann von Haider lediglich neu ausgerichtete FPÖ schließen sollte.
Während Zusammenschlüsse von der Art der LPF oder der deutschen Schill-Partei praktisch ausschließlich aus monothematisch interessierten Rassisten einerseits und ehrgeizigen Karrieristen und Quereinsteigern andererseits bestehen, können Parteien wie die FPÖ, der Vlaams Blok oder die dänische Volkspartei auf einen durchaus funktionierenden Apparat mit Untergliederungen auf verschiedenen Ebenen zurückgreifen; vor allem haben sie Mitglieder, die bereit sind, Plakate zu kleben oder den Kassenwart zu machen, ohne dass ihnen dafür gleich eine Laufbahn als künftiger Minister für Einwanderungsfragen versprochen werden müsste. Das gestattet es nicht nur, auch im vorpolitischen Raum präsent zu sein, sondern es sorgt auch für ein gewisses Beharrungsvermögen in Krisenzeiten. Während der Partei Fortuyns nach der Wahl am 22. Januar 2003 kein langes Schicksal mehr beschieden sein dürfte, wird die FPÖ ihren momentanen Tiefpunkt wohl mit Blessuren überleben.
Das Extrem einer solchen Vereinigung, die zugleich populistische Bewegung und Partei herkömmlichen Typs ist, stellt Silvio Berlusconis Forza Italia dar, die nach dem Ende der italienischen Christdemokraten den größten Teil des Parteiapparats übernahm und umfunktionierte. Das Erfolgsrezept, bestehend aus einer populistischen Bewegung mit der charismatischen Führungsgestalt Berlusconi, einer auf Aktivismus gepolten Partei, der Kontrolle über den weitaus größten Teil der Medien im Lande und einem Milliardenvermögen im Hintergrund, funktioniert so gut, dass Berlusconi sich seit seinem Wahlsieg darauf konzentrieren kann, das politische und vor allem das Justizsystem Italiens nach seinen persönlichen Bedürfnissen umzubauen.
Seine Bündnispartner, die rassistische Lega Nord und die neofaschistische Aleanza Nazionale sowie diverse aus der Christdemokratie hervorgegangene Splittergrüppchen, befinden sich in einer Art Zwangskoalition, weil Berlusconi sie schlicht in die Bedeutungslosigkeit stoßen könnte, sollten sie es wagen, gegen ihn zu rebellieren. Innerhalb kürzester Zeit hat er es geschafft zu demonstrieren, wohin der Rechtspopulismus drängt, wenn er das System beherrscht: zu einer Art modernisiertem Medien-Caudillismo.
Auffallend ist, dass Deutschland als bedeutendster Staat Westeuropas offensichtlich bisher keine populistische Bewegung ausbilden konnte, der ein längeres Dasein beschieden gewesen wäre. Trotz regelmäßig wiederkehrender Skandale regieren hier weiter dieselben Parteien wie schon vor einem halben Jahrhundert. Die größte Zäsur fand mit dem Auftauchen der Grünen statt, die man nicht als populistische Bewegung im engeren Sinn verstehen sollte.
Immer wieder haben zwar Parteien wie die Republikaner, die DVU oder die Schill-Partei erfolgreich versucht, den normalen rechten Stammtisch an die Wahlurne zu holen, doch in den allermeisten Fällen wiederholte sich nach ein bis zwei Jahren das ewig gleiche Szenario. Es gab Streit zwischen der Fraktion, der Fraktions- und der Parteiführung, die Fraktion spaltete sich, Parteiaustritte folgten, schließlich kam es bei der folgenden Wahl zu einer Niederlage auf ganzer Linie.
Bedeutet das, dass die deutschen Rechten organisatorisch schwach sind? Hat es ihnen bislang bloß an einer charismatischen Führungsgestalt gefehlt, an einem Haider, einem Berlusconi oder Le Pen? Der gemessen an dieser Historie außergewöhnliche Erfolg des Roland Barnabas Schill scheint dafür zu sprechen. Allerdings ist es Schill bei der Bundestagswahl nicht annähernd gelungen, an sein Hamburger Ergebnis anzuknüpfen, und seine Partei zeigt Anzeichen des Zerfalls, die in dieselbe Richtung weisen wie bei anderen, längst vergessenen Parteiabenteuern der extremen Rechten.
Tatsächlich war es wohl nicht das Charisma ihres Vorsitzenden und einzigen Inspirators, welcher der Partei die nötigen Prozente brachte, um in Hamburg den Innensenator zu stellen. Entscheidend war ein ganz anderer Faktor: die frühzeitige Anerkennung der Legitimität von Schills gegen so genannte Asoziale und Ausländer gerichtetem Wahlkampf durch die bürgerlichen Parteien. Kaum war Schill auf den Plan getreten, kümmerten sich die SPD, die FDP, die CDU und, in geringerem Maße, auch die Grünen nicht mehr um die anderen Themen und führten einen Wahlkampf, in dem es nur noch um innere Sicherheit, angebliche Drogendealer und die »Chaotenszene« in der Hafenstraße und im Schanzenviertel ging.
Da Schill aber mehr Erfahrung mit diesen Themen hatte, die Diskussion angestoßen hatte und zudem auch weiterhin die extremsten Positionen vertrat, erledigten die anderen Parteien schließlich die Propagandaarbeit für ihn.
Damit kopierten sie auf dumme Weise die Strategie, mit der sich Deutschlands Parteien jahrzehntelang die Rechten vom Halse gehalten hatten. Wann immer am rechten Rand etwas auftauchte, baute man die Ideologeme, mit denen argumentiert wurde, in die eigene Ideologie ein. Möglich war das, weil die bürgerlichen Parteien der Bundesrepublik viel weniger als ihre Gegenstücke in den meisten Nachbarländern in der republikanischen Tradition verankert sind. Ein Cordon sanitaire, der in Frankreich auf nationaler Ebene nicht nur Koalitionen mit der extremen Rechten ausschließt, sondern auch deren ideologische Positionen, hat in Deutschland nie existiert.
Aus diesem Grund konnte sich Le Pen in Frankreich als radikale Alternative darstellen. In Deutschland würde dies keinem noch so geschickten rechtspopulistischen Demagogen gelingen. Die Unterschiede wären einfach nicht augenfällig genug.