Dusty for President
Wahre Perfektion ist ein rares Gut, wie in der Kunst im Allgemeinen, so in der Popmusik im Speziellen. Denn, Hand aufs Herz: Wie viele wirklich perfekte Pop-Alben gibt es? Nicht eben viele. Meistens werden um die zwei oder drei Hitsingles eines Künstlers einfach noch ein paar Stücke drumrumgebaut, von denen ein paar gut und ein paar mittelmäßig sind und mindestens eines so richtig schlecht ist. Irgendwie muss die Platte halt voll werden, und seit das Album sich auf CD-Länge ausgedehnt hat, ist der Anteil mittelmäßiger Musik noch größer geworden. Trotzdem existiert es, das perfekte Pop-Album. Selten, aber es existiert. Eines dieser raren Exemplare ist nun wieder veröffentlicht worden: »Dusty In Memphis« von Dusty Springfield.
Nun ist Perfektion schwer zu definieren. Vielleicht sollte man sich darauf beschränken zu sagen, man erkennt sie, wenn man sie hört. Bei »Dusty In Memphis« hört man sie schon in den ersten paar Takten. Die Streicher heben an, ein Schlagzeug setzt ein, eine Gitarre spielt ein paar Töne, und dann kommt Dusty Springfields Stimme: »Just a little loving / early in the morning / beats a cup of coffee / for a starting of the day.« Wem nicht hier schon das Herz aufgeht, der hat keins. Und selbst wer keines hat, dürfte sich spätestens bei dem Stück »Breakfast In Bed« und der Zeile, »you don't have to say you love me«, daran erinnern, wann und wo er es verloren hat.
Dusty Springfield begann in den frühen Sechzigern als Mitglied einer zu Recht vergessenen Folkgruppe namens The Springfields. Die Legende will es, dass Dusty 1962 - sie war zum ersten Mal in den USA, um mit den Springfields in Nashville eine Platte aufzunehmen - den New Yorker Broadway entlangspazierte und an einem Plattenladen vorbeikam, aus dem Soulmusik dröhnte. Da soll es um sie geschehen sein. Wenig später verließ sie die Springfields auf jeden Fall, um eine Solokarriere zu starten.
Ihr Erfolgsrezept war denkbar einfach. Sie nahm britische Versionen amerikanischer Soulhits auf, Songs von Burt Bacharach oder Stücke aus der Motown-Schmiede. Erstaunlicherweise schaffte sie es damit sogar in die amerikanischen Charts. Nebenbei war sie auch noch der Host der BBC-Fernsehshow »The Sound Of Motown«, die dem britischen Publikum den Sound des »Young America« vorstellte.
Das ist erst einmal nicht ungewöhnlich. An jener Schnittstelle zwischen England und den USA trieben sich in jener Zeit viele Dutzend britischer Beat-Gruppen herum und im Grunde war die Beatmusik ja nichts anderes als der Versuch weißer Working-Class-Typen, den amerikanischen Soul nachzuahmen. (Es war allerdings eine beidseitige Faszination: umgekehrt hatten viele Soul-Sänger Songs der Beatles in ihrem Repertoire.) Das Besondere an Dusty Springfield war ihre ganz eigene Coolness. »Dusty nimmt nicht einfach einen Song auf, sie dustyfiziert ihn, sie verwandelt ihn in eine Dusty-Springfield-Platte«, sollte Neil Tennant viele Jahre später sagen, und wahrscheinlich ist die Platte, die Dusty mit den Pet Shop Boys aufnahm, die einzige, für die das nicht gilt. Sie hört sich vor allem nach den Pet Shop Boys an.
»Dusty In Memphis« aber ist genau das, die Dustyfizierung des Memphis-Sounds. Nun wird Memphis gemeinhin mit Elvis in Verbindung gebracht. Schließlich wuchs der King dort auf und spielte seine ersten Singles in den legendären Sun-Studios ein. Doch als Dusty Springfield im Sommer 1968 in den American Studios in Memphis auftauchte, waren die verschiedenen Studios in Memphis vor allem dafür berühmt, jenen Southern-Soul-Sound zu produzieren, der als einziger neben dem der Motown-Hitmaschine bestehen konnte.
Eine Musik, die sich wesentlich schwärzer anhörte als das, was in den Städten des Nordens an Soul produziert wurde, obwohl viele der Musiker weiße, versoffene und verdrogte Südstaaten-Provinz-Hipster waren. Ende der Sechziger pilgerten zahllose Künstler nach Memphis, um dort Platten zu produzieren. Ein Jahr nach Dusty Springfield übrigens auch Elvis, der in den American Studios seine Comeback-Platte »Back In Memphis« aufnehmen sollte.
Und genau hier, in Memphis, mit seinen hartgesottenen Studio-Muckern, die sich regelmäßig mit den Künstlern anlegten, die ihnen die Plattenfirmen der Ostküste vor die Nase setzten, und die sich noch gut an die Zeiten erinnern konnten, als sie für eine Schachtel Pillen und ein paar Flaschen Schnaps Hitsingles einspielten, tauchte nun Dusty Springfield auf. Eine Frau, die in England dafür berühmt war, sich ihren Mascara niemals abzuwaschen und stattdessen jeden Tag neuen aufzutragen. Sie wurde nicht nur vom Atlantic-Chef Jerry Wechsler begleitet, sie hatte auch ihren Friseur dabei.
Nun floppte »Dusty In Memphis« zwar, trotz der großen Erwartungen, die in die Platte gesetzt wurden, doch ein Stück daraus kennt tatsächlich jeder. Nämlich die Hitsingle, das einzige Stück des »Pulp Fiction«-Soundtracks, das man noch hören kann: »Son Of A Preacherman«. Doch eigentlich trägt hier der Gospelchor im Hintergrund fast schon ein wenig zu viel Gefühl vor. Das kirchenchorerprobte Großgefühl ist nämlich Dustys Sache nicht. Eher Miniaturen wie »Don't forget about me«, eines jener aus dem Leben gegriffenen »You don't have to say you love me«-Stücke.
Natürlich geht es um Gefühle, aber eben nicht um das große, weltumfassende Ja oder Nein, sondern um das kleine wie-kommen-wir-einigermaßen-unbeschadet-wieder-voneinander-los-Gefühl, jetzt, da wir hier schon mal miteinander liegen. Oder jenes wunderbare »I don't want to hear it anymore«, das von einer gleichfalls gescheiterten Liebesgeschichte erzählt. Aber über den höchst eleganten Umweg, sich darüber zu beklagen, dass man ständig die Nachbarn reden hört, denn, wie heißt es hier so schön: »In my neighbourhood, we don't live that good, the rooms are much to small and the walls are made of wood.«
Man könnte jedes einzelne Stück der Platte anführen. Alles perfekte Arrangements, die wundervolle Hausband des American Studio umspielt Dusty Springfields Stimme und legt ein Rhythmusgerüst, das gleichzeitig elegant und geerdet ist, die Bläser und Streicher schließlich betonen noch die feinsten Nuancen der Songs. Vielleicht kann man sich Perfektion genau so vorstellen: Britische Pop-Sensibilität trifft den Soul-Sound der amerikanischen Südstaaten.
Dusty Springfield: »Dusty In Memphis«. Mercury