Große Überraschung
Wir haben das Teil besetzt!« Renate Gemkow, eine Sozialarbeiterin, die in der Flüchtlingsberatung tätig ist, lacht und deutet in die Richtung der 50 Roma, die es sich im Konsultations- und Informationszentrum (KIZ) des Karl-Liebknecht-Hauses gemütlich gemacht haben. Am Montag, dem 18. November, nahm die Roma-Gruppe »Amen acas kate« (»Wir bleiben hier«) um 10 Uhr morgens das Gebäude, in dem die Bundes- und die Landesgeschäftsstelle der PDS untergebracht sind, für drei Tage in Beschlag. Mit der Besetzung protestierten die Roma gegen die geplanten Abschiebungen nach Jugoslawien.
Strafrechtliche Konsequenzen hatten sie nicht zu fürchten. »Schließlich muss man im Kopf klar haben, was für eine Verantwortung man hat«, meint Carsten Schatz, der Landesgeschäftsführer der PDS Berlin, und ergänzt: »Die Roma können hier so lange bleiben, wie sie wollen.« Auch die Berliner Polizei hielt sich zurück. Das war nicht immer so. Bei Demonstrationen von Roma im Juni stürmten Berliner Polizeieinheiten offensichtlich eigenmächtig die Unterkünfte der Protestierenden und nahmen erkennungsdienstliche Maßnahmen vor.
Drei Hauptforderungen richteten die BesetzerInnen an die Adresse des Senats: die sofortige Beendigung der Abschiebungen von Roma aus Berlin nach Serbien, ein Gespräch mit dem Innensenator Ehrhart Körting (SPD) und das generelle Bleiberecht für Roma in der Bundesrepublik Deutschland. Das Karl-Liebknecht-Haus wurde von der Romagruppe wegen der Regierungsbeteiligung der PDS in Berlin ausgewählt. »Die PDS hat nicht verhindert, dass Innensenator Körting und seine wild gewordene Ausländerbehörde weiterhin unsere Menschen abschieben«, ließen die Roma verlauten.
In Jugoslawien erwarten sie verheerende Lebensbedingungen sowie Repression und Diskriminierung. »Das heißt zum Beispiel, dass die Polizei oder die Öffentlichkeit nichts dabei finden, wenn wir grundlos beleidigt oder geschlagen werden.« Wohnraum und Schulen sind nicht vorhanden, die ärztliche Versorgung ist schlecht. »Die Krankenhäuser verfügen nicht über ausreichend Medikamente und sind häufig nicht in der Lage, selbst Notfallpatienten angemessen medizinisch zu versorgen«, schreibt sogar das Auswärtige Amt auf seiner Homepage und empfiehlt nach Jugoslawien Reisenden deswegen einen Auslandskrankenschutz mit Rückholversicherung. Den gibt es für die Roma nicht.
Zoran Djordjevic ist verzweifelt. Zwei seiner vier Kinder leiden unter LSE, einer schnell fortschreitenden Erkrankung mit häufig tödlichem Ausgang, wie ein Arzt aus Berlin attestiert. Helfen könne nur eine Therapie. »Es ist nicht realistisch zu erwarten, das dieses Therapieprogramm in der Stadt Nis realisiert werden kann«, antwortete Tugomir Popovic, ein Arzt aus der jugoslawischen Stadt, auf eine Anfrage aus Berlin. Zurzeit fällt Familie Djordjevic noch unter die Härtefallregelung, die die Abschiebung zunächst aussetzt.
Ungewohnt kooperativ entschied der Senat, auf die Gesprächsaufforderung der Flüchtlinge einzugehen. Milan, eines der drei Delegationsmitglieder, zeigte sich überrascht vom Verlauf der Unterredung, zu der Körting in Begleitung zweier Beamter des Landeskriminalamtes erschien, die für seine Sicherheit sorgen sollten: »Körting war mehr als nur Politiker, er war hilfsbereit.« Die Delegierten konnten einen vermeintlichen Teilerfolg melden. »Familien mit Kindern sollen bleiben dürfen«, kündigte der Senator an. Entscheidend sei, sagte seine Sprecherin, Henrike Morgenstern, »dass es sich um Familien mit mindestens einem Kind handeln muss, welches hier mindestens seit zwei Jahren zur Schule geht oder eine Kindertagesstätte besucht. Also um integrierte Familien, die sich hier verfestigt haben.«
Als Bedingung für diese Altfallregelung wurde die Einreise der Familien in die Bundesrepublik bis zum 1. Juli 1996 genannt. Sollte diese Regelung in Kraft treten, schlösse dieses Datum alle Roma aus, die vor den Bomben der Luftstreitkräfte der Nato im Jugoslawienkrieg flüchteten. Die Wahl des Stichtages sei kein Zufall gewesen, bestätigt Morgenstern: »Bei Bürgerkriegsflüchtlingen ist es grundsätzlich so, wenn sich die Lage beruhigt hat, ist es diesen Flüchtlingen durchaus zuzumuten, zurückzukehren.«
Im Gespräch mit den BesetzerInnen soll der Senator eingestanden haben, die Roma aus Serbien seien bis jetzt schlicht übersehen worden, berichtete eine Teilnehmerin. Auch Morgenstern gesteht Probleme der Berliner Innenbehörde bei der Erfassung von Flüchtlingen ein. »Es wird nur die Volkszugehörigkeit vermerkt, so zum Beispiel die Zugehörigkeit zum jugoslawischen Staatsvolk, die Ethnie wird aber nicht erfasst.« Auf die Tatsache hingewiesen, dass von »dieser Veranstaltung« ungefähr 1 000 Roma allein in Berlin betroffen seien, zeigte sich der Innensenator »schlicht überrascht«. Dabei ist spätestens seit dem Inkrafttreten des Rückführungsabkommens mit der Bundesrepublik Jugoslawien am 16. September klar, dass aus Deutschland 50 000 Roma nach Serbien abgeschoben werden sollen (Jungle World, 41/02).
Körtings Ahnungslosigkeit verwundert um so mehr, als das Berliner Abgeordnetenhaus am 26. September beschloss, den Roma wegen ihres besonderen Verfolgungsschicksals - gemeint ist die NS-Vernichtungspolitik -, ein Aufenthaltsrecht zu gewähren. Auch im Koalitionsvertrag hieß es: »Das Land Berlin wird sich beim Bund für ein dauerhaftes Bleiberecht für langjährig in Deutschland lebende Roma einsetzen.« Trotz allem begann die Ausländerbehörde damit, Roma abzuschieben.
Morgenstern sieht darin keinen Widerspruch, denn von all diesen Beschlüssen seien Personen ausgeschlossen, die straffällig geworden seien. Trotz offensichtlicher Fehlentscheidungen in mehreren Fällen nimmt er die Ausländerbehörde in Schutz: »Die Behörde hat nicht eigenmächtig gehandelt, um Tatsachen zu schaffen. Sie hat sich an die Richtlinien des Ausländerrechts gehalten.« So oder so hängen Körtings Vorschläge von der Zustimmung des Bundesinnenministers und der Kollegen der Länder ab. Sie einigten sich bereits Anfang Juni auf der Innenministerkonferenz in Bremerhaven darauf, Roma aus Deutschland abzuschieben.
Die Zusage Körtings, sich für das Aufenthaltsrecht von Romafamilien zu engagieren, garantiert den Betroffenen keine Sicherheit. Nur zwei Tage nach dem Gespräch mit Körting versuchte die Berliner Ausländerbehörde, eine Frau mit ihren beiden Kindern abzuschieben. Die Mutter beging einen Selbstmordversuch aus Angst vor der Zwangsausweisung.