Vor der roten Linie
Die Angriffe paramilitärischer Schlägertrupps hatten nicht den erwünschten Effekt. »Gestern in Modarres konnte man sehen, dass die Studenten trotz aller Behinderungen über die Zäune sprangen, um dabei zu sein, und die Parolen waren radikaler als zuvor«, erklärte der Studentenführer Abdullah Momeni. Er hatte den Kundgebungsteilnehmern am Montag der letzten Woche zugerufen: »Uns geht es nicht allein um die Revision dieses einen Todesurteils für Hashem Aghajari, sondern um die Meinungsfreiheit und die Freiheit allgemein.«
Der Geschichtsdozent Aghajari, der Anfang November wegen Blasphemie zum Tode verurteilt wurde, lehrte an der Teheraner Universität Modarres. Das Urteil war der Auslöser der zweiwöchigen Studentenproteste, doch die Mehrheit der Bewegung fordert nun auch demokratische Grundrechte und ein Referendum über die Einschränkung oder sogar die Beseitigung der Macht der Geistlichkeit. 3 000 Studenten der Technischen Universität in Teheran beschuldigten die Justiz und den religiösen Führer Ali Khamenei, das politische und soziale Reformprogramm des Präsidenten Muhammad Khatami unterminieren zu wollen. Sie kritisierten aber auch Khatamis zögerliche Reaktion auf die Manöver seiner innenpolitischen Gegner. »Khatamis Schweigen ist Verrat«, lautete eine Parole.
Khamenei vertraut dem bewährten Mittel der Gewalt, um die Proteste zu unterbinden. Die von seiner Fraktion mobilisierten paramilitärischen Schlägertrupps der Bassijis und Ansare Hezbollah konfrontierten die demonstrierenden Studenten mit dem Ideal des Selbstmordattentäters: »Märtyrertum ist unsere Ehre. Unsere rote Linie, die nicht überschritten werden darf, ist die Macht des Führers.« Etwa 700 Islamisten griffen die Demonstration der Studenten an. Die Anzahl der Verletzten ist nicht bekannt. Viele von ihnen vermeiden es, sich in Krankenhäusern behandeln zu lassen, um ihrer Verhaftung zu entgehen.
Khamenei und Khatami streiten über die geeigneten Mittel zur Bekämpfung von Dissidenten, sind sich aber einig in der Furcht vor einer Radikalisierung der Bewegung, die schnell zur Forderung nach einer Trennung von Staat und Religion führen und sich über studentische Kreise hinaus ausweiten könnte. Die Anziehungkraft der von den islamistischen Reformern propagierten »religiösen Demokratie« im Rahmen des von Ayatollah Khomeini geschaffenen Systems schwindet. »Religiöse Demokratie ist nichts außer religiöser Diktatur«, lautete eine der bei den Demonstrationen gerufenen Parolen.
Ob der Legitimationsverlust durch Gewalt kompensiert werden kann oder durch Zugeständnisse aufgefangen werden muss, ist der zentrale Konflikt im islamistischen Machtkampf. Der Flügel um Khatami bezweifelt, dass der von Khameneis Fraktion beherrschte Justizapparat den richtigen Weg einschlägt, wenn er sich nun sogar gegen die Islamisten wendet. Es werde die Delegitimation des Systems nur verstärken, wenn selbst altgediente islamistische Kämpfer in der Todeszelle sitzen.
Hashem Aghajari hatte im Juni in einer Rede vor einem geschlossenen Kreis die Frage aufgeworfen, warum nur Geistliche das Recht haben sollten, den Koran zu interpretieren. Jede Generation solle den Glauben auf eigene Weise auffassen dürfen und nicht den Geistlichen blind folgen müssen. Das Urteil für diese Aussagen war drakonisch: Er erhielt die Todesstrafe und darüber hinaus wurde er zu 74 Peitschenhieben verurteilt sowie zum achtjährigen Exil in drei entlegenen Städten und zu einem zehnjährigen Unterrichtsverbot. Nach islamistischen Regeln wird bei einer Ansammlung von Strafen die Todesstrafe bevorzugt.
Zunächst demonstrierten die paramilitärischen Einheiten, die jede Abweichung hart bestraft sehen wollen, gegen Aghajaris gefährliche Agitation. Sie forderten sogar die Auflösung der Organisation der Mujahedin der Islamischen Revolution, der Aghajari angehört. Das Problem ist jedoch, dass diese Organisation zu den unter Khomeinis Herrschaft gegründeten Kampfgruppen gehört. Sie besteht aus »linken« Islamisten, die sich als wahre Erben der ursprünglichen Ideale Khomeinis sehen. Sie gehen davon aus, dass in der Regierungszeit Khomeinis einerseits den »Unterdrückten« geholfen, andererseits eine »starke und unabhängige Gemeinschaft« gegründet wurde. Es war vor allem diese Fraktion, die sich um eine Verbreitung der iranischen Revolution bemühte.
Ali Akbar Mohtaschemi und Muhammad Mussavi Choinia, der Chefredakteur der unter Khomeini gegründeten, mittlerweile aber verbotenen Zeitung Salam, gehören zu den Wortführern dieser Bewegung. Mohtaschemi organisierte als Botschafter in Syrien bereits in der ersten Hälfte der achtziger Jahre die Verbindung zwischen der libanesischen Hizbollah und Ayatollah Montazeri, der als Dissident gilt, weil er ein Rivale Khameneis ist.
Die Organisation der Mujahedin der islamischen Revolution und Daftare Tahkime Wahdat (Büro zur Festigung der Einheit), eine Studentenorganisation, die an der Säuberung der Universitäten von allen nicht islamistischen Kräften nach der Machtübernahme der Mullahs stark beteiligt war, gehören zur Gemeinde der kämpfenden Geistlichkeit, die einen bewaffneten Kampf gegen das Regime des Schah führte. Einer ihrer Hauptorganisatoren war Ayatollah Morteza Motahari, ein Islamist der ersten Stunde, der auch als ein Lehrer des gegenwärtigen Präsidenten Khatami gilt. Den Führer dieser Organisation, Hojatoleslam Rasti Kaschani, ernannte Khomeini Anfang der achtziger Jahre persönlich. Es ist also durchaus konsequent, wenn sich Khatami auf die Ideale Khomeinis beruft.
Bis 1988 waren alle islamistischen Fraktionen in einer staatlichen Einheitspartei, der Islamisch-Republikanischen Partei, vertreten. Bereits damals gab es Fraktionskämpfe. Khomeini war jedoch der Meinung, der Streit könne den Staat gefährden, er löste die Partei auf. Mit solchen Maßnahmen ließen sich die Machtkämpfe aber nicht eindämmen, sie beherrschen längst das politische Klima im Iran. Beide Fraktionen scheinen derzeit daran interessiert zu sein, eine weitere Eskalation zu vermeiden. Als das von Anhängern Khatamis dominierte Parlament das Todesurteil für Aghajari als »ungeeignet« bezeichnete und der Präsident gleichzeitig die Studenten zur Ruhe aufrief, gab Khamenei nach. Das Urteil soll nun neu verhandelt werden, obwohl Aghajari sich bislang weigerte, in die Berufung zu gehen.
Andere Angeklagte können auf solche Zugeständnisse kaum hoffen. Der Rechtsanwalt Nasser Zarafschan wurde kürzlich von einem Militärgericht zu fünf Jahren Haft, fünf Jahren Berufsverbot und 50 Peitschenhieben verurteilt, weil er über geheime Gerichtsakten öffentlich gesprochen haben soll. Er untersucht eine Mordserie an Intellektuellen im Jahre 1998. Einige Geheimdienstler, die angeblich ohne Auftrag handelten, wurden für die Taten verurteilt. Eine Erforschung der Hintergründe wünscht niemand im islamistischen Establishment. Als sich am Freitag der vergangenen Woche in Teheran 4 000 Menschen im Gedenken an die Attentatsopfer versammelten, wurden sie sofort von islamistischen Schlägertrupps auseinandergetrieben.