Konrad Bayer, Gerhard Rühm und die Gruppe 47

Es gibt nichts Gemeinsames

Konrad Bayer und Gerhard Rühm trugen ihre Texte der Gruppe 47 vor. Wie sich das anhörte, dokumentieren zwei CDs.

Fällt der Begriff »Wiener Gruppe« und ruft man daraufhin sein literarisches Halbwissen ab, stößt man schnell auf die Kategorisierung »Klassiker der Moderne«. Ungeheuer wichtig, damals, vor 40, 50 Jahren. Der Allgemeinplatz lautet: Die in dieser Gruppe organisierten Literaten haben mit ihrer Sprachskepsis und ihrem Formalismus die Explosion der literarischen Avantgarde, die sich in den sechziger Jahren ereignete, vorweggenommen.

So ganz falsch ist das nicht. Als Hans Carl Artmann, Friedrich Achleitner, Konrad Bayer, Gerhard Rühm und Oswald Wiener - diese fünf Autoren sind die Wiener Gruppe - 1956 ihre ersten Gemeinschaftsarbeiten in Angriff nahmen, bearbeiteten sie alltägliches Sprachmaterial: Konversationslexika, Wörterbücher, Trivialliteratur, Dialekt. Ein vordergründig virtuoser Umgang mit dem Material war ihnen fremd wie tief grüblerische Sinnsuche in den Alltagssprachen. Sie arbeiteten ganz dicht an den Oberflächen. Die Montagen und Permutationen, das Auseinanderreißen und Wiederzusammensetzen der Floskeln, Allgemeinplätze, Alltagsweisheiten und Redewendungen erschöpfen sich in sich selbst.

Trotzdem verdoppeln sie in ihren Arbeiten nicht einfach nur den herrschenden Sprachmüll (den sie nie platt ideologiekritisch als Sprachmüll bezeichnet hätten). Ihre Montagen schaffen keinen neuen, anderen, »besseren« Sinn, aber sie verdeutlichen die Funktionsmechanismen der Sprache; sie spielen damit, zeigen Verständnisgrenzen und demonstrieren in surrealen, kabarettistischen Wendungen, was passiert, wenn man diese Linien überschreitet. Oswald Wiener spricht davon »'wirklichkeit' auszustellen, und damit, in konsequenz abzustellen«. Und Bayer notiert: »die wirklichkeit bläht sich weiter auf und zerplatzt.«

Einige hübsche Beispiele dieser Arbeiten finden sich auf einer Doppel-CD. Gerhard Rühm liest »Gemeinschaftsarbeiten«, die er mit Konrad Bayer schuf, Konrad Bayer trägt seine Arbeit vor. Es handelt sich um »Originaltonaufnahmen«, das heißt so viel wie authentische Zeitdokumente. Wir schreiben die Jahre 1962, 1963 und 1964. Der extrem umtriebige Konrad Bayer, nebenbei auch Musiker, Filmdarsteller, Herausgeber, ist gerade dabei, bekannt zu werden. Die ersten größeren Manuskripte gehen in den Druck, er wird nach Deutschland zur Gruppe 47 eingeladen, macht Rundfunkaufnahmen, Rowohlt bekundet Interesse.

Die Arbeiten des 1932 geborenen Konrad Bayer unterscheiden sich von denen der anderen Gruppenmitglieder, die vor allem kurze Texte - Gedichte, Chansons und hochkonzentrierte Sprechstücke - produzieren. Bayer dagegen arbeitet seit Anfang der sechziger Jahre an dem längeren Text »der sechste sinn«.

Am 11. Oktober 1964 begeht er Selbstmord. Der fast abgeschlossene Prosatext, der Roman »der sechste sinn«, wird 1966 von Rühm herausgegeben, ein, wie er anmerkt, »größtenteils autobiographischer« Text, in dessen Mittelpunkt Franz Goldenberg (alias Konrad Bayer) steht.

Erste Auszüge daraus hatte Bayer noch selbst vorgetragen, z.B. am 23. Juli 1962 in einem Studio des SFB. Bayer, der schnell und mit feinem Wiener Akzent liest, erweist sich als Meister des Materials, die unterschiedlichen Auszüge des Romans weichen in der Form (und somit auch im Inhalt) stark voneinander ab. Da wären die Geschichten, die nur oberflächlich zusammenhängend sich darstellen und unter der Hand in einzelne Sätze, Assoziationen, Reflexionen, Satzsplitter und Wiederholungen zerlaufen: »seit er nina kannte, hatte sie ihn verlassen. das kommt oft vor, versicherte ihn der junge indianer und schlug ihm seine rote hand auf die schulter, dass er vorne über fiel.«

Mitten drin finden sich so schöne Sätze wie: »der junge, vermögend wirkende sportsmann, mit guten manieren ausgestattet, hatte anstelle persönlicher eigenschaften starke patriotische neigungen.« Oder: »und die plüschsofas seiner erinnerung senkten sich langsam unter dem druck der ereignisse über die rampe seines bewusstseinstheaters.«

Und schließlich gibt es wieder diese stark formalisierten Passagen: »seit fünf tagen leide ich unter entsetzlicher müdigkeit, sagte der vornehm wirkende junge mann. goldenberg schwieg. wie finden sie sich zurecht, wollte der vornehm wirkende junge mann wissen. goldenberg gab antwort. nennen sie mich einfach stefan, entgegnete der vornehm wirkende junge mann. dann sprach goldenberg, der vornehm wirkende junge mann unterbrach ihn. er sagte, tatsächlich? dann sprach goldenberg. pardon, unterbrach ihn der vornehm wirkende junge mann. goldenberg wiederholte einen teil des letzten Satzes. Der vornehm wirkende junge mann sagte, nennen sie mich stefan. dann sprach goldenberg.« So geht das noch eine ganze Zeit. Bayers Technik der seriellen Verschiebungen wirkt nie manieriert. Man spürt, wie frisch das Material ist.

Ein gutes Jahr später folgt dann sein erster Auftritt vor der Gruppe 47. Er liest 20 Minuten aus dem »sechsten sinn«. Die Stimmung ist gut, es wird viel gelacht, und anschließend wird diskutiert. Walter Jens, Carl Améry, Reinhard Baumgart, Ernst Bloch und Hans Mayer treten auf. Man ringt um Verständnis und Begriffe und verfehlt Bayers prägnanten Vortrag komplett. Mayer schwadroniert von »Kosmologie und Anthropologie«, »Witz und Grauen«, Jens entdeckt »die grammatikalische Umsetzung von optischen Zeichen«, obwohl es darum nun gerade nicht geht - »es gibt nichts gemeinsames. nur die sprache schafft gemeinsamkeiten«, schreibt Bayer an anderer Stelle. Einzig Bloch punktet, wenn er in Bayers Texten »eine Form von Heimatlosigkeit auf der Welt« entdeckt und »die Sprengung des Verabredeten«.

Als hätte Bayer darauf bereits geantwortet, schreibt er im »sechsten sinn«: »wir können in die welt nicht eindringen, wir haben nichts mit ihr zu tun, wir schaffen bilder von ihr, die uns entsprechen, wir legen methoden fest, um uns in ihr zu verhalten, und nennen es die welt oder, wenn es kracht, ich in der welt, es ist hochmütiger als man denkt.«

Ein Jahr später liest er abermals vor der Gruppe 47. Es ist September 1964, wenige Wochen später wird er sich umbringen. Ihm wird vorgeworfen, er enthumanisiere die menschliche Geschichte, sei kalt gegenüber Empfindungen, er bringe seine vermeintlichen Parabeln mutwillig um die Pointen, alles sei sinnentleert, lieblos, leicht durchschaubar und grenzenlos beliebig.

Keine Frage, diese Kritik von diesen Leuten (zu diesem Zeitpunkt) muss man heute als Lob verstehen. Bayer hatte die Begrifflichkeit der Kritik bereits vorher unterlaufen, weswegen die Entgegnungen so überzogen wirken. Wenn Sprache Gemeinsamkeit schafft, dann hat sie auch die Fähigkeit, Gemeinsamkeit zu zerstören.

Diese Doppel-CD mit Originaltonaufnahmen stört die Kanonisierung. Wir hören Konrad Bayer nicht als Altavantgardisten, sondern kriegen die Ware direkt aus der Werkstatt geliefert. Die Dichte des Materials, die Vielfältigkeit der Technik, natürlich auch die Verweigerung, die nicht postuliert, sondern durchgearbeitet wird, erschließen sich sofort. Nicht die Gruppe 47, Bayer hat den Konsens aufgekündigt.

Konrad Bayer: Der sechste sinn. Originaltonaufnahmen 1962-1964
Konrad Bayer / Gerhard Rühm: Gemeinschaftsarbeiten 1957-1962. Supposé Verlag, Köln