»Wir steuern auf einen Putsch zu«

Alfredo Ruíz, Pablo Fernández

Unversöhnlich stehen sich in Venezuela Anhänger der Regierung Hugo Chávez und des Unternehmensverbandes Fedecámaras sowie des Gewerkschaftsverbands CTV gegenüber. Alle Vermittlungsbemühungen waren bislang erfolglos, und die Zahl derjenigen, die zur Waffe greifen würden, nimmt auf beiden Seiten stetig zu.

Die 1985 gegründete Menschenrechtsorganisation Red de Apoyo por la Justicia y la Paz betreut Opfer von polizeilicher und militärischer Gewalt. Alfredo Ruíz ist ihr Direktor, Pablo Fernández der Koordinator im Bereich Bildung. Mit ihnen sprach Knut Henkel.

Sowohl in der Opposition als auch in der Regierung dominieren derzeit extreme Positionen, die umstrittenen Vermittlungsbemühungen der Organisation amerikanischer Staaten drohen zu scheitern. Wie beurteilen Sie die Situation?

Ruíz: Wir stehen an einem Scheideweg. Wenn das konspirative Spiel zwischen den beiden Polen weitergeht, dann steuern wir auf einen neuen Putsch und eventuell auf einen Prozess der Kolumbianisierung unseres Landes zu. Wir sind auf dem besten Wege, die Institutionen des Landes zu schwächen, sogar zu zerstören. Das ist sicherlich der falsche Weg.

Betrifft diese Schwächung auch die Justiz in Venezuela? Und inwiefern kann sie überhaupt als unabhängig bezeichnet werden?

Ruíz: Da sprechen Sie ein gravierendes Problem an. Das Justizsystem und die öffentlichen Einrichtungen leiden daran, dass ihnen Glaubwürdigkeit und Effizienz fehlen. Das betrifft alle Ebenen, die Exekutive, die Legislative, die Generalstaatsanwaltschaft, die Kontrollbehörden, einfach alles. Daraus resultiert ein Vertrauensverlust.

Derzeit ist zudem die Situation so, dass die Verantwortlichen in der Staatsanwaltschaft und im Justizsystem eng mit der Regierung verbunden sind. Zumeist sind es Anhänger des Präsidenten Chávez, die nicht durch Kritik auffallen und nicht die Regierung kontrollieren, was per se zu ihren Aufgaben gehört. Das erschwert dringend notwendige Reformen und beeinträchtigt die Unabhängigkeit der Justiz. Das hat eine Schwächung der Institutionen zur Folge.

Ist das ganze Justizsystem in der Krise?

Fernández: Ja, denn es geht nicht nur um Einzelfälle von schlechter Amtsführung. Die Richter und Staatsanwälte leiden unter schlechten Arbeitsbedingungen, die sich sicherlich auch negativ auf ihre Arbeit auswirken. Zudem schleppen sie einen Rattenschwanz von Fällen hinter sich her, sie sind total überfordert. 1 000 bis 1 500 Fälle für einen Staatsanwalt sind keine Seltenheit, das Verhältnis zwischen dem Arbeitsaufkommen und dem Personal stimmt nicht. Defizite gibt es auch bei den Untersuchungsbehörden, dort fehlt es ebenfalls an Mitteln und Professionalität.

Diese Faktoren tragen viel zur Straflosigkeit in Venezuela bei. Von 100 angezeigten Delikten werden nur drei vor Gericht verhandelt. Es werden bei weitem nicht alle Delikte angezeigt, weil die Bevölkerung weiß, dass die Wahrscheinlichkeit, mit einer Anzeige Erfolg zu haben, relativ gering ist. So sind es vor allem Kapitalverbrechen, die noch angezeigt werden, Mord vor allem, aber nur selten Vergewaltigungen.

Fehlt es am politischen Willen, diese Situation zu ändern?

Ruíz: Scheinbar werden die Defizite im Justizsystem immer noch nicht ernst genommen, obwohl es längst an der Zeit ist, sie ernst zu nehmen.

Gibt es Fälle von Selbstjustiz?

Fernández: Ja, die gibt es. Im vorletzten Jahr hatten wir einen Arbeitsschwerpunkt Grupos de extermine (Ausrottungsgruppen), das sind faktisch paramilitärische Gruppen. Sie agieren in mehreren Bundesstaaten des Landes und behaupten, jene zu eliminieren, die der Kriminalität verdächtigt werden. So wollen sie, wie sie sagen, die Kriminalität im Lande reduzieren. Am schlimmsten ist die Situation im Bundesstaat Portuguesa.

Die Situation erinnert an die Aktivitäten paramilitärischer Todesschwadronen in Kolumbien.

Fernández: Es gibt viele Parallelen, wenn auch die Tragweite bisher nicht so groß ist. Die Grupos tauchten zum ersten Mal 1998/99 auf, als Grupo de extermino I, und diese Gruppe rekrutierte sich vor allem aus Polizeikräften. Viele ihrer Mitglieder sind mittlerweile festgenommen worden, einige verurteilt, bei anderen läuft das Verfahren noch. Aber mittlerweile gibt es die Grupo de extermino II, die nicht allein aus Polizeikräften, sondern auch aus gewöhnlichen Kriminellen besteht. Es werden auch Leute erpresst. Die Gruppe bietet eine Sicherheitsgarantie. Wer nicht einwilligt und zahlt, wird ermordet.

Wir haben diese schwer wiegenden Menschenrechtsverletzungen der Interamerikanischen Menschenrechtskommission angezeigt. Sie hat bereits eine Delegation nach Venezuela geschickt, die im Bundesstaat Portuguesa mit den Familienangehörigen der Opfer sowie mit lokalen Regierungsvertretern gesprochen hat. Diese Delegation hat die staatlichen Stellen vor Angriffen auf Angehörige und Zeugen gewarnt. Derzeit kümmern wir uns um die Zeugen und Opfer. Wir arbeiten aber auch im Bildungsbereich, denn wir sind der Meinung, dass dies der einzige Weg ist, Menschenrechtsverletzungen zu reduzieren und ihnen vorzubeugen. Es soll eine Kultur des Respekts für die Menschenrechte aufgebaut werden. Das ist unser zentraler Ansatz.

Portuguesa liegt relativ nah an der kolumbianischen Grenze. Gibt es Verbindungen zwischen den Gruppen in Venezuela und den Paramilitärs in Kolumbien?

Ruíz: Das ist unklar. Die Situation in den Grenzregionen ist recht unübersichtlich, und immer wieder ist es vorgekommen, dass Guerilla wie Paramilitärs auf venezuelanischem Territorium agiert haben. Mehr noch unter der Regierung von Rafael Caldera (1993 bis 1998) als unter jener von Hugo Chávez. Chávez hat die konstitutionellen Rechte für die Flüchtlinge bekräftigt, so dass die Leute nicht illegal in Venezuela sind. 2 200 Kilometer gemeinsamer Grenze lassen sich nicht so einfach kontrollieren, zumal sie zum Teil mitten in Urwald liegt und nur von Flüssen markiert wird. Es ist quasi unmöglich zu sagen, wie viele Personen aus dem Grenzgebiet vertrieben wurden, wie viele illegal nach Venezuela kamen.

Es gibt keine zuverlässige Grenzkontrolle, und es gibt auch keine zivilen Behörden in dieser bevölkerungsarmen Zone. Es gibt dort nur Militäreinrichtungen, die verdächtige Personen ohne jeden Beweis über Tage und Wochen festhalten. Es gibt dort keinen Staatsanwalt, keinen Richter, es ist de facto eine entrechtete Zone. Es gibt Berichte über Folter, Vergewaltigungen, Verbrechen, von Drohungen gegen die Zivilbevölkerung, denen kaum nachgegangen wird. Es gab in der Zone auch extralegale Hinrichtungen, es sind Menschen verschwunden, ohne dass die Justiz auf diese Beschuldigungen reagiert hat und ihnen auf den Grund gegangen ist.

Sehen Sie einen Ausweg aus der Polarisierung in Ihrem Land?

Ruíz: Es besteht ein Klima der gegenseitigen Beschuldigung. Das ist keine gute Grundlage für einen runden Tisch, um Animositäten auszuräumen. Denn alle müssen dazu bereit sein, eigene Fehler einzugestehen. Das ist aber, soweit ich das beurteilen kann, nicht der Fall. Wir leben in einem Land mit großen sozialen Problemen, einem hohen Bevölkerungsanteil, der in Armut lebt, der ein Recht auf eine Verbesserung seiner Situation hat. Wie erreicht man diese Verbesserung und gleichzeitig die Stabilisierung unserer derzeit schwachen Demokratie? Das ist für mich die entscheidende Frage. Wir brauchen Konzepte, Lösungen, die alle Seiten befriedigen. Das ist die Herausforderung.