Der Am-Mehrsten-Journalismus

Vor zehn Jahren wurde der Focus auf den Markt gedrückt. von jörg sundermeier

Helmut Markwort wäre gern ein zweiter Rudolf Augstein. Er wäre gern wichtig. In jeder Ausgabe des Focus, der vor einigen Tagen zehn Jahre alt wurde, ist der Chefredakteur gleich auf Seite drei abgebildet, direkt über dem Editorial, das er »Tagebuch« nennt und in dem stets der Eindruck vermittelt wird, dass Helmut Markwort in der Redaktion was zu sagen hat. Im Jubiläumsheft, das in der vergangenen Woche erschien, wurden zudem Fotos abgedruckt, die den Focus-Chef im Gespräch mit allen möglichen Prominten zeigen, was beweist, dass Helmut Markwort auch schon einmal mit Schröder, Kohl und sogar Putin reden durfte. Außerdem sieht man ihn natürlich weiterhin Woche für Woche in dem berühmten Fernsehwerbespot. Er sitzt im Hemd in der Redaktionskonferenz, auf der in immergleichen Wendungen über das kommende Heft geredet wird. »Immer an die Leser denken«, mit dieser Losung bringt Markwort seine Untergebenen auf Trab. Markwort arbeitet leidenschaftlich gern, wir wissen es jetzt.

Es gab viele Versuche, das Hamburger Traditionsmagazin Spiegel anzugreifen, alle scheiterten. Auch dem Focus ist es nicht gelungen, das publizistische Format zu toppen, allerdings hat das Münchner Magazin bei seinem Scheitern eine Marktlücke entdeckt. Denn wenngleich das Projekt, das zunächst unter dem Arbeitstitel »Zugmieze« firmierte, im Spiegel kurzfristig für Aufregung sorgte und dessen Auflage ein wenig taumeln ließ und für Einbrüche im Anzeigengeschäft sorgte, so stellt der Focus doch keine ernsthafte journalistische Konkurrenz für den Spiegel dar.

Mit Titelstorys wie »Die 500 besten Anwälte« im Jahr 1993 oder mit der »Große Ärzte Liste« mit »750 Empfehlungen« vier Jahre später machte das Blatt Auflage, mit Titeln wie »Besser denken« oder »Warum wir siegen wollen«, die Erkenntnisse der Küchenpsychologie mit Karrieretipps verbanden, schaffte es Focus, sich irgendwo zwischen einer Testzeitschrift und einer Illustrierten einzuordnen. Und die Kombination aus Lebensberatung und überflüssigen Tortengrafiken war es dann auch, die dem Focus seinen Erfolg bescherten.

Markwort aber scheint mit dem Erreichten noch nicht zufrieden zu sein. Spekulationen, dass er seinen Chefposten zum zehnten Geburtstag seines Blattes räumen werde, waren voreilig. Markwort, der sich von seinem Verleger Hubert Burda als »erster Journalist« bezeichnen lässt, vermittelt den Eindruck, er lege es drauf an, mit den Füßen voran aus dem Laden getragen zu werden. Der ewige »Focus-Vize« (Focus) Uli Baur dürfte noch einige Zeit aufs Nachrücken warten dürfen.

Markwort indes kann sich anstrengen, wie er will. Er wird nie ein Augstein sein. Nicht nur weil die Zeit der großen Patriarchen vorbei ist. Mit seinen Kommentaren zur deutschen Geschichte und zur Politik erwies Augstein sich zwar nicht als großer Denker, dafür, dass sich viele Leute aufregten oder begeisterten, reichte es allerdings sehr oft.

Das kann Markwort nicht. Er ist kein Provokateur, kein Mahner, kein Störer. Er scheint nicht zu wissen, dass es im Betrieb üblich ist, sich öffentlich zu streiten. Nicht umsonst verband Augstein mit Strauß und mit vielen anderen, die er öffentlich angriff, und die ihn angriffen, ein fast freundschaftliches Verhältnis. Markwort ist ein Möchtegernfreund der herrschenden Klasse, der er, wahrscheinlich wohlhabend, jedoch nicht besitzend, eben nicht angehört, und – anders als Augstein zu seiner Zeit – wird er von den Mächtigen des Landes nicht gefürchtet. Markwort ist ein Parvenü, wie es die Jubiläumsausgabe zeigt, er will nicht wirklich anecken, will nicht verletzen. Denn er wirkt ängstlich.

Aus dieser ängstlichen Haltung heraus, gelang es dem Focus nie, einen wirklich mächtigen Mann zum Rücktritt zu zwingen (Politiker »zu stürzen« gilt unter Journalisten als große Tat). Markworts Redaktion scheint höchstens in der Lage zu sein, Fallende zu schubsen. So konnte man über Cem Özdemirs belastende Kontakte zu Moritz Hunzinger wohl nur deshalb etwas im Focus lesen, weil der Politiker der Grünen in der eigenen Partei nicht länger gelitten war.

Außerdem ist ein Politiker vom Format eines Özdemir für den Focus noch gerade so zu schaffen. Begegnen die Focus-Redakteure allerdings Joschka Fischer, können sie nicht mitreden, und Friedrich Merz musste zu seiner Gewerkschaftsbeschimpfung nicht erst gereizt werden, sondern hatte seinen Mediencoup offensichtlich schon vorher geplant. Wenn der Focus etwas aufdeckt, so ist es selten etwas, was sich nicht im Sog andernorts gemachter Enthüllungen eh schon zu entblößen begann.

Ebenso scheinen die Kontakte der Focus-Redakteure zu den Nachrichtendiensten, Parteispitzen und Industrievorständen nicht die besten zu sein, die ewigen »gut unterrichteten Kreise« jedenfalls reden offensichtlich mit anderen Leuten.

Nicht nur, dass der Focus beim investigativen Journalismus wenig zu bieten hat; vollends scheitert das Blatt, wenn es um die so genannten Debatten geht. Der Kulturteil des Magazins ist für das Geistesleben der Republik ohne Belang, bedeutende oder wenigstens umstrittene Beiträge sucht man vergebens. Die Redakteure geben stattdessen Einkaufstipps und weisen in kleinen Kästen, kurzen Textchen und mit bunten Bildern auf Bücher, Platten oder Filme hin. Statt Positionen zu beziehen, stützt sich das Blatt auf die Meinung von Experten und auf Statistiken.

In der Jubiläumsausgabe ist eine typische Balkengrafik zu finden, in der wir erfahren, dass der Focus im Jahr 2002 über 6 961 »redaktionelle Seiten« verfügte, während es der stern gerade mal auf 6 541 und der Spiegel auf 6 688 brachte. Der zugehörige Text behauptet, diese Grafik belege, dass der Focus »das umfangreichste journalistische Angebot aller Wochenzeitschriften« präsentiert habe. »Im Rekordjahr 2000 waren es sogar 8 364 Seiten«, heißt es.

Worin allerdings dieses Angebot bestand, bleibt verborgen. Wir erfahren lediglich: Focus ist am dicksten, Focus hat am mehrsten. Einer anderen Grafik entnehmen wir, dass Gerhard Schröder in den vergangenen zehn Jahren 2 486 Mal im Blatt erwähnt wurde, Helmut Kohl nur 2 156 Mal und Wolfgang Clement lediglich 589 Mal, dennoch belegt er damit den zehnten Platz in der Liste der »zehn politischen Riesen des Jahrzehnts«.

In welcher Weise sie erwähnt wurden, ob es darum ging, dass Schröder ein Wahlbetrüger sei oder aber dass er einen Freund beim Kauf einer Krawatte begleitete, erfährt man nicht. Hätte Guido Westerwelle eine Kochkolumne im Focus, wäre er wohl die Nummer eins der Liste geworden, in der er nun ebenso fehlt wie Müntefering, Merkel und Möllemann.

In dieser »Am meisten«-Haltung drückt sich Markworts ganzes journalistisches Selbstverständnis aus. Er denkt in den Kategorien länger, höher, weiter, bunter, lauter. 750 beste Ärzte mussten es sein, nachdem es vorher bereits einmal 500 gewesen waren. Warum Markwort bislang noch nicht mit den »10 000 besten Deutschen« titelte, bleibt ein Rätsel.

Dennoch hat der Focus es nicht nur geschafft, sich bei seinen Leserinnen und Lesern einzuschmeicheln, die vom Blatt beinahe zärtlich als die »Info-Elite« bezeichnet werden. Sein Konzept der sinnlosen Statistiken und Einkaufstipps hat viele andere Zeitungsmacher erkennen lassen, dass ihre Leserschaft gar keine klugen Texte will. Der Spiegel reagierte auf die Konkurrenz, indem er bunter wurde und kürzere Beiträge brachte. Was früher auf vier Seiten abgehandelt wurde, hat im Spiegel nun auf zwei Seiten Platz. Auch begriffen alle leitenden Redakteure, dass man dem Nachwuchs nicht zeigen muss, wie man gut schreibt, richtig recherchiert und nachfragt. Mittelmaß tut’s auch.