Papa bleibt

Den meisten Israelis gilt Ariel Sharon weiterhin als der verlässlichste Regierungschef. Viele aber trauen keiner Partei mehr zu, die Probleme des Landes zu lösen. von michael borgstede, tel aviv

Als wir am späten Nachmittag in Tel Aviv ankommen, gehört Laras Mutter noch zu den 14 Prozent der Unentschlossenen. Gerade ruft sie wütend in der Zentrale der Arbeitspartei an: »Ich würde gerne für Mitzna stimmen, der Mann hat eine Chance verdient. Aber wer garantiert mir, dass er nicht nach der Wahl als Parteichef wieder abgesetzt wird?« Jael am anderen Ende der Leitung versteht die Bedenken, meint aber, man müsse trotzdem Mitzna wählen. Nur so könne man ihn stärken. Anat bleibt skeptisch, und Lara und ich beschließen, vor den ersten Hochrechnungen noch einen Spaziergang durch Tel Aviv zu machen.

Am Kikar Medina zelten Obdachlose. Sie werden ihre Domizile bald räumen müssen, denn auf diesem wertvollen Stück Land im Zentrum der Stadt sollen die teuersten Luxusappartements Israels entstehen. Joram und sein Dackel sitzen vor ihrem Zelt. Ja, er habe schon gewählt. Wen? Sharon natürlich. Den Arabern müsse man es zeigen, denen komme man nur mit Gewalt bei. Und außerdem werde Sharon alle Gastarbeiter deportieren.

»Und was haben die anderen hier gewählt?« »Sharon natürlich. Alle wählen hier Likud.« Sharon ist eine Art Magier. Er könnte die Sozialhilfe abschaffen, die ehemaligen Empfänger würden trotzdem für ihn stimmen. Genau wie der Korruptionsskandal in seiner Partei und Familie ihn nicht ins Straucheln bringen konnte. »Papa bleibt Papa, auch wenn er ein Dieb ist«, war neulich in der Tageszeitung Ha’aretz zu lesen.

Am Strand pausieren wir für ein Falafel und hören im Radio, dass um 19 Uhr erst 65 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben haben und es sich um die geringste Wahlbeteiligung seit 1949 handle. Der Vorsitzende des Wahlkomitees denkt schon jetzt über Geldstrafen für Nichtwähler in der Zukunft nach.

Das wird niemanden davon abbringen, die Parteien und Abgeordneten für korrupt zu halten und ihnen keine Lösung der Probleme des Landes mehr zuzutrauen. Der unermüdliche Shimon Peres versucht noch immer, die frustrierten arabischen Israelis zur Wahl zu bewegen. Sie aber wissen mittlerweile, dass sie nach den Wahlen gar zu schnell wieder vergessen werden.

Ein Propagandafahrzeug des Likud beglückt uns mit lauter Musik und den Parolen: »Ha’a rotze Sharon« (das Volk will Sharon) und »Ha’a rotze Schalom« (das Volk will Frieden). Wir nähern uns Tel Avivs Süden und entdecken mehr und mehr Wahlplakate, die mit rotem Klebeband und der Aufschrift »noknesset.org.il« überklebt wurden.

Einige hundert Meter weiter löst sich das Rätsel, als uns ein junger Mann ein Flugblatt in die Hand drückt. Er und seine Kollegen von Noknesset.org.il möchten das bestehende System abschaffen und eine »direkte Demokratie« einführen, mit Volksabstimmungen per Internet. Alle Parteien seien korrupt und unfähig, man solle entweder nicht wählen, oder »noknesset« auf den Wahlschein schreiben. »Meschuggim«, murmelt Lara.

Um 22 Uhr schließen die Wahllokale, und die ersten Hochrechnungen flimmern nur Minuten später über den Bildschirm. Der linken Meretz-Partei werden genau halb so viele Mandate wie bisher vorhergesagt, während der Likud auf eine Verdoppelung seiner Knessetsitze hoffen darf. Shinui hat es mit einer schwammigen anti-orthodoxen Ideologie tatsächlich zur drittstärksten Kraft gebracht.

Die Nachbarin steht vor der Tür. Sie hat Dattelkekse gebacken und gar nicht gewählt, denn Mitzna müsse sich erst in der Opposition beweisen und Sharon könne sie nicht ausstehen. Außerdem warte sie auf Arafats Tod. Bis dahin sei ihr Sharon lieber, er habe Erfahrung mit der Terrorbekämpfung. Obwohl eine große Mehrheit der Bevölkerung Mitznas politisches Konzept unterstützt, wählen die meisten schließlich doch Sharon. Denn »beim Arik weiß man, woran man ist«, und Mitznas mangelnde politische Erfahrung schreckt viele ab.

Jener Mitzna, der schüchtern-höfliche Sohn deutscher Einwanderer, überrascht uns nun mit einer geradezu mitreißenden Rede. Er verspricht, der Partei in der Opposition wieder zu einem eigenen Profil zu verhelfen. Auf keinen Fall will er einer großen Koalition mit Sharons Likud beitreten.

Schade nur, dass sein innerparteilicher Konkurrent Benyamin Ben-Eliezer mit säuerlichem Gesichtsausdruck in der Ecke steht und sich der Eindruck aufdrängt, er könne Mitzna jeden Augenblick in den Rücken fallen. Was er wahrscheinlich auch probieren wird. Peres sichert Mitzna in einem Interview seine volle Unterstützung zu. Auf die Frage, ob die Arbeitspartei eine große Koalition in Betracht ziehe, antwortet er: »Alles ist möglich.« Das nennt er also »volle Unterstützung«.

Im Hauptquartier von Shinui ist die Hölle los. Nach dem Wahlerfolg glaubt man, es den Orthodoxen endlich mal zeigen zu können. Anat zweifelt für einen Moment an ihrer Stimme für Mitzna. Wenn schon kein Frieden mit den Palästinensern möglich sei, dann solle man wenigstens den Orthodoxen ihre Privilegien nehmen. Außerdem gehöre auch sie der »ausgebeuteten Mittelklasse« an, die mit ihren Steuergeldern die Jeshivot, die Religionsschulen der Thorastudenten, finanziere.

Bei der sephardisch-orthodoxen Shas-Partei erklärt einer jener »Schmarotzer« mit Bart und Kippah uns jetzt, wie liberal und weltoffen die orthodoxe Community sei. Das bringt das Fass zum Überlaufen, Anat stellt den Ton ab: »Dumme Menschen dürfen hier nicht reden.« Auch die Nachbarin hat genug: »Der war mein Gesundheitsminister, und er macht mich krank.«

Der Shinui-Effekt, die Verachtung für die Charedim, die Orthodoxen, vereint die säkulare Mittelklasse. Dabei ist die Wählerschaft der Shas nicht ausschließlich orthodox. Jahrzehntelang wurden Juden orientalischer Herkunft von einer europäisch-ashkenasischen Elite diskriminiert. Shas bietet ihnen Kindergartenplätze mit kostenlosen Mahlzeiten und Schulen, auch wenn die Schüler vor allem auf das Thorastudium vorbereitet werden.

Bis weit nach Mitternacht lässt Sharon uns warten, und als er endlich seine Rede hält, schaut er nicht besonders glücklich drein. Der Sieger gibt sich versöhnlich; zitiert für die Linken ein wenig Rabin, zur Freude der Religiösen aus der Thora und zählt anschließend all das auf, was Israelis täglich ängstigt. Der Irakkrieg, die schlechte Wirtschaftslage und die Selbstmordattentate seien die Herausforderungen für die neue Regierung, und eben darum müsse es eine »Regierung der nationalen Einheit« sein. Als Sharon das Wort »Einheit« zum ersten Mal in den Mund nimmt, antworten ihm Sprechchöre: »Wir wollen keine Einheit!« Später werden Rufe nach dem Hardliner Benyamin »Bibi« Netanyahu laut. Er winkt böse ab, steht er doch wenigstens bis zur nächsten Umsturzchance »uneingeschränkt« hinter Sharon. Wie Peres hinter Mitzna. Irgendjemand muss zur Likud-Party die falschen Leute eingeladen haben.

Wir rufen Mohammed im Westjordanland an und entschuldigen uns für das Wahlergebnis. Er hat mit nichts anderem gerechnet, aber in seinem Dorf sei die Enttäuschung groß. Man setzte Hoffnungen auf Mitzna. Wir trösten ihn. Die nächsten Wahlen werden nicht lange auf sich warten lassen. In spätestens eineinhalb Jahren, meint Ehud Barak, sei es wieder so weit. Spätestens.