Vom Adolf zum Dieter

Zur Aktualität einer kritischen Theorie des autoritären Charakters und zum zehnten Todestag Leo Löwenthals. von roger behrens

Der am 3. November 1900 geborene Leo Löwenthal gehörte zum Kern des Forschungskreises um Max Horkheimer, traf schon als Schüler mit Theodor W. Adorno zusammen und fand wie dieser in Siegfried Kracauer einen Freund und Mentor. Bevor er ab 1930 am Institut für Sozialforschung arbeitete, war er Lehrer. Von Genf emigrierte er 1934 in die Vereinigten Saaten, während des Zweiten Weltkriegs beriet er das Office of War Information im Vorgehen gegen Nazideutschland.

Bei Adornos und Horkheimers »Dialektik der Aufklärung« war Löwenthal am Kapitel »Elemente des Antisemitismus« beteiligt. Von 1949 bis 1953 war er Direktor der internationalen Forschungsabteilung der Voice of America, ab 1956 Professor für Soziologie an der University of California in Berkeley. Löwenthal, der sich Ende der vierziger Jahre auch vor dem McCarthy-Komitee für unamerikanische Aktivitäten zu verantworten hatte, unterstützte in den Sechzigern die studentische Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg. Löwenthal starb am 21. Januar 1993 in Berkeley an den Folgen einer Lungenentzündung.

Als sich Löwenthal bereits auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus befand, erschienen 1935/36 die »Studien über Autorität und Familie«, an denen er beteiligt war. Aus der Perspektive einer kritischen Literatursoziologie untersuchte er, inwiefern die Muster von Autorität und Konformität im Zuge der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft zu einem tragenden Element der bürgerlichen Subjektivität wurden. »Die Autorität, wie sie sich auf allen Kulturgebieten, begonnen beim Produktionsprozess und aufgehört bei den individuellsten Vorgängen des Alltags und des Familienlebens vorfindet, bezieht ihre letzte gesellschaftliche Bedeutung für eine bestehende Ordnung daher, dass sie eine mächtige Waffe im Dienst der Aufrechterhaltung dieser Ordnung ist. (…) Alle autoritären Veranstaltungen in einer bestimmten Gesellschaft dienen letzten Endes dazu, die bestehenden Produktions- und Verteilungsverhältnisse immer wieder anzuerkennen«, schrieb er.

Dass wir es heute mit »Falschen Propheten« – Löwenthals Studie zur faschistischen Agitation von 1949 – zu tun haben, erscheint nunmehr weniger als Bedrohung, vielmehr als Segen des demokratischen Amüsierbetriebs. Bevor blinde Menschenverachtung die Politik erreicht, die diese ohnehin praktiziert, ist es das Erfolgsrezept der guten Unterhaltung. Dass Rassismus als Witz nicht besser wird, sondern den Rassismus der Gesellschaft quittiert, hat die kritische Theorie strukturell in den Studien zum autoritären Charakters gezeigt.

»Unmittelbarkeit und Allmacht«, »Zusammenbruch kontinuierlicher Erfahrung«, »Zusammenbruch der Persönlichkeit« oder »Kampf ums Überleben« nennt Löwenthal die Grundzüge des faschistischen Terrors. Er diagnostiziert eine Strukturparallele, nach der »moderner Antisemitismus und Kulturindustrie letztlich in denselben gesellschaftlichen Kontext gehören, auch wenn sie zeitweise verschiedene politische Funktionen haben.«

Die Kulturindustrie ist latent antisemitisch, so wie sie latent rassistisch, sexistisch, menschenverachtend ist; strukturell basiert sie auf Ausschluss des Anderen. Ebenso ist der Antisemitismus tendenziell eine Verfahrensweise der Kulturindustrie; Antisemitismus wie Kulturindustrie machen den Einzelnen austauschbar, zum Exemplar. Man braucht die Juden nicht, um die Muster zu generieren, nach denen notfalls sofort gegen sie oder irgendeine Ersatzgruppe Front gemacht werden kann. Kapitalismus und Lagersystem finden ihren gemeinsamen Nenner in der Verwertungslogik.

Unter seinem Namen hat sich Dieter Bohlen eine Biografie schreiben lassen, und er liegt auch damit im Trend. Erfinde dich selbst, sei kreativ, schreibe dein Leben um, heißen die Parolen der neoliberalen Selbstverwirklichungsideologie. Im Prinzip ist die gesamte, in den letzten Jahren über den Buchmarkt hinwegrollende Welle der so genannten Popliteratur der Versuch einer einzigen Autobiografie, in deren Sog des flott geschriebenen Erlebnisberichts Autor und Publikum auf die Unmittelbarkeit eingeschworen werden, zur selben Generation zu gehören, die im Laufe ihres Lebens die größtmögliche Form von Distinguiertheit und Differenz bewiesen habe.

»You can win the race!« Bohlen singt, was er meint, und er schreibt es auch: »Wir brauchen eine totale Rückbesinnung auf das Leistungsprinzip. Wir müssen an die Urinstinkte appellieren: Leistung und Gier!«, sagt der »diplomierte Betriebswirt« »dem deutschen Volk nett, aber bestimmt« im GQ.

Auch die jüngeren Ideologen sprechen die Menschenverachtung frech aus; für Männer empfiehlt sich Florian Illies’ »Generation Golf«, die alles, was sie Ich und Selbstbewusstsein nennt, aus der bedingungslosen Identifikation mit der Ware bezieht; für Frauen ist es Katja Kullmanns »Generation Ally«, in der selbst Magersucht und Beziehungsstörung als Zeugnis der Ichstärke herhalten. Leistung und Gier heißen hier: Depression und Egomanie.

Wer ahnt, dass damit nur die Erbärmlichkeit getarnt wird, die mittlerweile auch das vermeintlich genussorientierte Leben der Reichen und Schönen bestimmt, greift – je nach Klassenlage – als Gernegroß und Bourgeois auf Christian Kracht zurück, als Sozialverlierer und Kleinbürger auf Benjamin von Stuckrad-Barre und kann sich in deren Texten am Unglück der anderen berauschen, an Vorurteil und Schadenfreude.

Dies ist die neue Saison der biografischen Mode, die Leo Löwenthal bereits beschrieben hat: die Popular-Biografie, mit der sich Literatur als eine Karikatur von Theorie aufspielt, fungiert auch zu Beginn des letzten Jahrhunderts als Pervertierung des Romans. Dass heute Popbiografien sich als Romane gerieren, belegt das. Die als Helden Vorgeführten »sind keine mehr, sie haben kein Schicksal, sie sind bloße Funktionen des Geschichtlichen. Die Begriffe von Geschichte und Zeit, die höchsten Prinzipien der Historie, sind in der Biografie verdinglicht, eine Art versteinerter Anthropologie, sachliche, fast starre Gegenständlichkeiten, denen bestimmte Eigenschaften zukommen.«

Die beliebtesten »Themen der Popular-Biografie sind Politik, Macht und die Typologie der Führer«. In der Kulturindustrie werden diese Themen auf den Star konzentriert, der, wenn er künstlerisch kaum etwas zu bieten hat, sich als ökonomischer Führer inszeniert. Der Popstar, auch der selbst ernannte und geschickt vermarktete Jungliterat, ist die Groteske des Führers; mit autoritärem Gehabe behauptet er seine liberale, ja antiautoritäre Einstellung, die seine Tabuverletzungen legitimiert.

Das ist das Geheimnis der Autobiografie, hier wird ein Selbstbild vom Charakter und Original entworfen, das nicht mehr so grausam wie der Diktator, so klug und weise wie der Künstler daherkommen muss, um doch mit deren Persönlichkeitstypus etwas gemein zu haben. Das, was als Biografie interessant gemacht wird, sind Erlebnisse, die jeder kennt, aufgemöbelt in der Übertreibung des Durchschnittlichen.

Der Bildungsroman des 19. Jahrhunderts steht für den von Widersprüchen gezeichneten Entfaltungsprozess des Individuums, schließlich für das konstitutive Scheitern des bürgerlichen Subjekts. Im 20. Jahrhundert ist dieses Scheitern kein literarisches Modell mehr, sondern zur kruden Wirklichkeit, zur Normalität des allgegenwärtigen Anpassungsdrucks geworden. Man scheitert nicht an den Verhältnissen, sondern an sich selbst. »Seid ein bißchen egoistischer!«, ruft Bohlen den Ich-Losen zu. Schwieriger ist es mit dem Dresscode geworden. »Denn es geht nicht mehr nur darum, die richtigen Labels im Schrank zu haben, sondern um die Entscheidung, welche Art Frau man sein will«, so Cosmopolitan.

Was sich in den kulturindustriellen Derivaten an Subjektform ausdrückt, findet seine Entsprechung in der allgemeinen Ideologie von Individuum und Gesellschaft. Das 20. Jahrhundert, vom Imperialismus bis zum Neoliberalismus, wird bewohnt von einem dem Klassenschema querlaufenden Sozialcharakter, den Löwenthals Freund Siegfried Kracauer als den »Angestellten« beschrieb. Er ist ein bedingungsloser Konformist, der sein Handeln ganz auf die Bestätigung bestehender Verhältnisse einrichtet, aber gleichzeitig glaubt, genau damit aus der Ordnung auszubrechen.

In unterschiedlichster Weise, aber stets mit paranoider Fixierung, sieht der Konformist sich permanent in seiner Existenz bedroht: durch Ausländer, die Nachbarn, Freunde, auf die man neidisch ist, durch das Fernsehen, die Kollegen und den Chef, durch »die da oben« oder durch den Zwang, schon wieder neue Sachen kaufen zu müssen. Das, worauf sich die Ressentiments richten, hat sich gewissermaßen demokratisiert; zum besonderen Hass auf den Juden gesellt sich die allgemeine Missgunst.

In diesem Sinne definierte Löwenthal faschistische Agitation wie auch Kulturindustrie als »umgekehrte Psychoanalyse«: »Gemeint waren damit jene Techniken, die darauf abzielen, Menschen im Zustand psychischer Abhängigkeit zu halten, neurotisches und sogar psychotisches Verhalten zu fördern und zu festigen, dass es schließlich in der totalen Abhängigkeit von einem ›Führer‹ oder von Institutionen oder Produkten kulminiert.«