Armee schießt auf Polizei

Ein zweitägiger Riot erschüttert Bolivien. Plünderungen, Schießereien und Straßenkämpfe. Nun hat die Regierung Lozada auch die städtische Bevölkerung gegen sich.

Es scheint, als ob Präsident Gonzalo »Goni« Sánchez de Lozada das Chaos geradezu heraufbeschwört. Kaum zeichnete sich am Sonntag der vergangenen Woche eine Wende im zählebigen Konflikt mit den Koka-Bauern ab, verkündete der rechtsliberale Lozada die Einführung einer Einkommenssteuer.

Sogleich erhob sich im ganzen Land Widerspruch. Der die unterschiedlichen sozialen Bewegungen zusammenfassende, aus Arbeitslosen-, Arbeiter-, Lehrer-, Rentner-, Indígena-, Bauern- und Kokalerovertretern bestehende »Generalstab des bolivianischen Volkes« rief zu Großdemonstrationen auf. Vom größten Gewerkschaftsverband COB wurde ein Generalstreik organisiert, in vielen Städten demonstrierten Hunderttausende. Am Mittwoch und Donnerstag brannten Autos und Gebäude, Tränengas vermischte sich mit dem Rauch von Dynamit-Detonationen der in Pyrotechnik erfahrenen Minenarbeiter, Scharfschützen lauerten auf Dächern.

Das war die Kulisse der seit zwanzig Jahren größten Ausschreitungen, vergleichbar vielleicht mit dem »Krieg ums Wasser« in Cochabamba im Frühjahr 2000.

Auch die Polizei schloss sich den Protesten an, mit einem eigenen Anliegen: eine Lohnerhöhung um 40 Prozent. Mindestens 7 000 Polizisten verweigerten den Dienst, und so konnten die Demonstranten aufbrechen, ohne dass Ordnungshüter sie begleiteten.

In Oruro, Potosí, Santa Cruz, Cochabamba, La Paz und El Alto kam es daraufhin zu Massenplünderungen von luxuriösen Einkaufsstraßen, von Bankautomaten, Lebensmittel- und High-Tech-Läden. Besonders begehrt waren Handys. In Cochabamba wurde ein an der belebten Straße Heroinas gelegenes Möbelgeschäft leer geräumt. In der auf der Hochebene nahe der Hauptstadt La Paz gelegenen Stadt El Alto wurde eine Coca-Cola-Fabrik angegriffen und von einem Hubschrauber der Streitkräfte verteidigt.

Am Mittwochabend attackierten in La Paz Studenten der Ayacucho-Universität den Präsidentenpalast mit Steinen. Nachdem das Militär auf an den Demonstrationen beteiligte Polizisten geschossen hatte, wurden innerhalb weniger Stunden die Gebäude des Arbeitsministeriums, des Vizepräsidenten, des Ministeriums für alternative Entwicklung sowie die Büroräume der Regierungsparteien MNR, MIR und UCS geplündert und angezündet. Präsident Sánchez de Lozada musste aus dem entglasten Regierungspalast evakuiert werden. Kurz darauf zog er sein Vorhaben einer Steuerreform zurück – nicht einmal 72 Stunden nach der Ankündigung.

Am Donnerstag, nach knapp zwei Tagen Riot, meldeten sich die Polizisten wieder zum Dienst zurück; anscheinend hatte die Regierung ihnen Zugeständnisse gemacht. Aber einige Einheiten befanden sich weiter im Ausstand, während andere Seite an Seite mit dem Militär, das sie am Vortag noch beschossen hatte, die Straßen kontrollierten.

Mindestens 29 Menschen wurden durch Schüsse – überwiegend von Soldaten – getötet, darunter zwölf Angehörige der Polizei, die sich mit Unterstützung der Bevölkerung ein fünfstündiges Feuergefecht mit der Palastwache geliefert hatten. Unter den Getöteten ist auch eine Mitarbeiterin des Roten Kreuzes, die von einem auf einem Hochhaus postierten Scharfschützen erschossen wurde, als sie einem am Boden Liegenden zu Hilfe kam. Es gab über 100 Verletzte.

Die Verantwortung für den Einsatz der Scharfschützen wies die Regierung am Freitag auf einem Sondertreffen der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) in Washington zurück. In einer Resolution drückten die ständigen Botschafter von 34 Ländern des Kontinents ihre Unterstützung für Lozada aus. Waldo Albarracín, Präsident des Menschrechtsrates in Bolivien, forderte eine von der OAS eingesetzte unabhängige Kommission zur Untersuchung der Vorfälle. Zeugen wollen beobachtet haben, wie Militärhubschrauber Vermummte mit langen Gewehren auf Dächern in der Innenstadt von La Paz absetzten. Die staatliche Bürgerrechtsbeauftragte Boliviens (Defensora del Pueblo), Ana María Romero, entgegnete den Unschuldsbekundungen der Regierung, es sei undenkbar, dass Scharfschützen des Militärs ohne Befehl handelten.

Einen Tag nach dem Aufstand erklärte der Minister für nachhaltige Entwicklung und Planung, José Guillermo Justiniano, Bolivien werde trotz der Proteste an den vom IWF entwickelten Wirtschaftsreformen festhalten, was von diesem mit Freude aufgenommen und mit »voller Unterstützung«, so die Tageszeitung Los Tiempos, vergolten wurde.

Der Impuestazo, so wird das Reformpaket von den Aufständischen genannt, wäre für die Bolivianer ein drastischer Einschnitt in die ohnehin kärglichen Einkommen gewesen. Wer mehr als 120 Euro verdient, hätte in Zukunft 12,5 Prozent an den Staat abgeben sollen. Ob arm, ob reich, alle sollten den gleichen Prozentsatz zahlen.

Schleierhaft bleibt der Grund für den Zeitpunkt, zu dem Lozada die Steuerreform ankündigte: wenige Stunden, nachdem die Kokaleros überraschend ein Schlichtungsangebot gemacht und angekündigt hatten, als Gegenleistung für eine Entmilitarisierung der Kokaregion Chapare ihre Felder freiwillig zu verkleinern und auf die Errichtung weiterer Straßenblockaden zu verzichten. »Das war ein großzügiges Angebot der Kokaleros, um den sozialen Frieden herzustellen«, sagte der Kopf der Kokaleros und Oppositionsführer, Evo Morales, der Jungle World.

Denkbar sind zwei Motive für das Handeln der Regierung. Entweder provozierte sie mit dem Impuestazo bewusst, um von dem Schauplatz Koka abzulenken. In diesem Fall hat sie die Reaktion der städtischen Bevölkerung unterschätzt. Oder sie glaubte, die vom IWF und von den USA geforderten Maßnahmen zur Reduzierung des Haushaltsdefizits zu diesem Zeitpunkt durchsetzen zu können.

Dann befände sie sich im selben Irrtum, an dem auch die Vorgängerregierung des ehemaligen Diktators Hugo Banzer litt: in einem verarmten Land, in dem der Großteil der 70prozentigen Indígena-Mehrheit von Wohlstand und Partizipation ausgeschlossen ist, ohne Rücksicht auf deren Interessen Tagespolitik machen zu können.

In der Welt der weißen Señores und der dunkelhäutigen Lakaien – noch immer verfügen die meisten Haushalte der weißen Schicht über mindestens zwei Hausdiener – können die Aufständischen gar nicht als handelnde Subjekte ernst genommen werden. Der Regierungsdiskurs des Sparens und der richtigen Justierung der Wirtschaft richtet sich daher nur an den kleinen Kreis der Kreolen und wird von ihm aufgenommen.

Doch mittlerweile wurde ein irreversibler Prozess in Gang gesetzt: 27 Prozent der Wähler haben im Juli 2002 »ihre« Vertreter gewählt und damit gegen die Oligarchie gestimmt. Über 30 Indígenas und Mestizos, teils mit Federschmuck, teils mit ML-Schulung, sitzen im Nationalparlament. Mit kombinierten parlamentarischen und außerparlamentarischen Aktionen hält die Opposition die Regierung seither in Schach. Die Frage der rassistischen Zweiteilung Boliviens steht auf der Tagesordnung. Sie »ist die Basis aller aktuellen Kämpfe«, meint Evo Morales. Erklären ließen sich damit zum Teil die Aggressionen gegen die K’aras, die Weißen, und gegen die Symbole ihres Reichtums und ihrer Herrschaft.

Für Montag und Dienstag dieser Woche hat die COB zu einem landesweiten Streik aufgerufen, um gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung und ihr Vorgehen gegen die streikenden Polizisten zu protestieren. In seiner Residenz in einem Vorort von La Paz soll Präsident Lozada nach Angaben von Regierungsbeamten an einem neuen Wirtschaftsplan arbeiten. Im Gespräch ist auch eine Umbildung des Kabinetts.