Kämpfen und lieben

40 Jahre lang widersetzten sich die Menschen rund ums Kottbusser Tor der Kahlschlagsanierung ihres Kiezes. Wie das genau war, zeigt eine Ausstellung. von christoph villinger

Mit Steinen bewaffnet hinter brennenden Barrikaden, als HausbesetzerInnen, als MusikerInnen oder als »Betroffene« der staatlichen Kahlschlagsanierung – die Menschen rund ums Kottbusser Tor haben in den vergangenen Jahrzehnten ein Stück Berliner Stadtgeschichte geschrieben. Jetzt finden sich ihre Pflastersteine und Lederjacken, ihre Plakate und Flugblätter hinter Glas wieder, in einer Ausstellung des Kreuzberg-Museums.

Die Räume in der Adalbertstraße waren überfüllt, als Anfang Februar die Ausstellung »Geschichte wird gemacht. Berlin am Kottbusser Tor« eröffnet wurde. Da standen sie, die alten Straßenkämpfer und Hausbesetzerinnen, die Galionsfiguren des Widerstands gegen die Kahlschlagsanierung, unter ihnen der spätere Baustadtrat von Kreuzberg, Werner Orlowsky, und Gert Möbius, der Bruder von Rio Reiser. Sie schauten sich an und schienen zu fragen: Sind wir Besucher oder Teil der Ausstellung? Die Konflikte, für die sie stehen, haben heute keine Sprengkraft mehr. So sangen im ersten Stock die Frauen des autonomen Chors »Judiths Krise« radikale Lieder, während im dritten Stock der ehemalige Bürgermeister von Kreuzberg und jetzige Senator für Stadtentwicklung, Peter Strieder (SPD), mit Zahlen um sich warf: 6 000 Wohnungen seien in den vergangenen 40 Jahren abgerissen, 5 000 saniert und weitere 5 000 Wohnungen neu gebaut worden; insgesamt drei Milliarden Mark habe der Staat in Europas größtes Sanierungsgebiet gesteckt.

Als die Sanierung vor einem Jahr offiziell abgeschlossen wurde, gab es eine Million Mark für den Quartiersfonds zur freien Verfügung. Die KreuzbergerInnen entschieden, einen Teil des Geldes für eine Ausstellung über ihren Kiez zu verwenden. Martin Düspohl, der Leiter des Kreuzberg-Museums, berichtet, dass immer wieder auswärtige BesucherInnen nach den Menschen und Ereignissen fragten, die sich im kollektiven Gedächtnis der Republik festgesetzt haben. »Wo wohnte Rio Reiser in Kreuzberg?« »Findet man bei euch auch etwas zum 1. Mai?«

Es war ihm wichtig, dass »die Geschichte nicht aus der Perspektive von Ausstellungsmachern dargestellt wird, sondern die Bewohner selbst über ihr Leben zwischen Protestbewegungen und Stadtsanierung erzählen«. Deshalb rief der »Verein zur Erforschung der Geschichte Kreuzbergs« im vergangenen Jahr die BewohnerInnen dazu auf, die Ausstellung mitzugestalten. »Über 60 junge und ältere Menschen, deutscher und nicht deutscher Herkunft, meldeten sich«, erzählt Düspohl. Über ein Jahr sammelten und recherchierten die AusstellungsmacherInnen, führten Interviews, fotografierten und scannten Plakate ein. Herausgekommen ist eine spannende Ausstellung auf zwei Etagen.

Um den Stadtteil als Ganzes geht es im ersten Stock. Ein riesiges Modell des Sanierungsgebiets aus dem Jahr 1981 füllt den Raum. Zu den Fotos der damaligen Fassaden kann man sich über Kopfhörer anhören, wie die BewohnerInnen der Häuser von den Veränderungen erzählen, die stattgefunden haben. Ausführlich werden die verschiedenen Phasen des Kampfes gegen die staatliche Stadtsanierung dargestellt. Vom Kampf gegen das Autobahnkreuz auf dem Oranienplatz bis zu den verschiedenen Fraktionen der HausbesetzerInnen im Jahr 1981 ist die ganze Bandbreite der Aktionen und Positionen zu finden. Doch je näher man der Gegenwart kommt, desto flacher wird die Geschichtsschreibung. Wollte jemand in Kreuzberg »zurück in die Normalität«? Ist das Quartiersmanagement die Quintessenz all dieser Kämpfe? War da nicht etwas ganz anderes gemeint?

Rio Reiser und seine Brüder bilden das zentrale Thema in der zweiten Etage. Man erfährt, wie sie 1968 in der Oranienstraße mit Hoffmanns Comic Teater begannen, später die Band Ton Steine Scherben gründeten und 1971 zur Besetzung des späteren Georg-von-Rauch-Hauses am Mariannenplatz aufriefen. Mit Agitprop versuchten sie, dem Arbeiternachwuchs des Kiezes ein revolutionäres Bewusstsein zu verleihen. In einem schwarzen Kubus kann man die Musik der »Scherben« hören, von besseren Zeiten träumen und sich dazu Dias anschauen, die revolutionäre Bewegungen aus aller Welt zeigen. Hinter einer Glasscheibe liegt die Totenmaske von Rio Reiser, der Berlin 1975 genervt in Richtung Schleswig-Holstein verließ und 1996 starb.

Viele der AusstellungsmacherInnen näherten sich dem Stadtteil mit dem Fotoapparat. Monatelang fotografierten Valerie Kroener und Lucas Nagel die Drogenszene am Kottbusser Tor. Andere lichteten die Kneipen des Stadtteils ab, die Geschichte eines Selbsthilfehauses oder machten Panoramafotos. Wieder andere erzählen die Geschichte des Arbeitersportvereins »Lurich 02«.

Das Bildarchiv Umbruch dokumentiert mit Fotos und Plakaten die wechselvolle Geschichte des 1. Mai. Im Text zur Vitrine mit den Pflastersteinen heißt es: »An den Plünderungen 1987 beteiligen sich auch ›normale‹ Kreuzberger von der Oma bis zum türkischen Familienvater. Rund um die brennenden Barrikaden tobt ein kollektives Volksfest.« Wer versteht das heute noch? Mühsam versucht eine Museumsführerin einer polnischen Abiturientenklasse den Kreuzberger 1. Mai zu erklären.

Schwierigkeiten bereitete den MacherInnen die Einbeziehung der überwiegend arabischstämmigen Bevölkerung in den Hochhäusern südlich des Kottbusser Tors. Nur ansatzweise gelang dies mit Hilfe einer Schreibwerkstatt, berichtet die Museumsmitarbeiterin Ulrike Treziak. »Sie erzählen ganz andere Dinge, als wir erwarten.« In allen Einzelheiten hätten sie die Pflanzen auf ihren Balkonen beschrieben, die Sanierungsgeschichte interessierte sie überhaupt nicht. »Ihre Geschichten sind Ornamente, weniger Abbildungen ihres Lebens wie bei den Deutschen.« Schließlich fotografierte Isabella Scheel die Menschen in ihren Wohnzimmern, wo sie sich stolz auf das Erreichte vor der Kamera präsentierten.

Die bunte Vielfalt des Quartiers scheint keine Konflikte in sich zu bergen. Durch das Festhalten der Geschichte vergewissert man sich seiner selbst und stellt sich doch gleichzeitig in die Vitrine. Da die Stadtsanierung als zentraler Konflikt vorbei ist, werden die einst als »Anti-Berliner« Bekämpften jetzt wieder eingemeindet. So betont Martin Düspohl, dass weder die Hausbesetzungen noch der 1. Mai die bürgerliche Gesellschaft auf den Kopf stellen konnten. »Vielmehr transportierten sie urbürgerliche Ideale wie Verantwortung fürs Gemeinwesen und die Idee der Selbstorganisation zur gemeinsamen Interessenvertretung.«

Deshalb überrascht es auch nicht, dass die Ausstellung von den aktuelle Konflikten so gut wie nichts erzählt. Der Verkauf der Häuser aus städtischem Besitz an Privateigentümer findet zum Beispiel keine Erwähnung. Was tun also? Aus den Achtzigern lernen. Die Ausstellung zeigt ein Video der Kreuzberger Band MDK, die singt: »Was ist uns geblieben, außer zu kämpfen und zu lieben?«

Die Ausstellung ist bis zum 4. Mai im Kreuzberg-Museum, Adalbertstr. 95a, zu sehen. Mittwochs bis sonntags von 12 bis 18 Uhr. www.kreuzbergmuseum.de