Auf die Ohren

»Chicago«: Der Film ist ein Musical

Leider, leider beweisen die Filmkreativen in aller Welt immer wieder, dass sie ein gestörtes Verhältnis zur Filmmusik haben. Wolfgang Petersen etwa ertränkte seinen Darsteller George Clooney in dem Fischdrama »Der Sturm« mit Flötentönen von Hans Zimmer. Der schöne Film »Was nicht passt, wird passend gemacht« leidet ganz erheblich an dem Provinzmucker Stoppok. Und Michael Winterbottom lässt in seinem diesjährigen Berlinale-Gewinner »In this World« nicht nur zwei Flüchtlinge festnehmen, sondern steckt sie anschließend noch in den Orchestergraben.

Blickt man zurück auf die Anfänge des Kinos, dann bemerkt man sehr schnell, dass da zu Beginn gleich was nicht stimmte. Man sah zwar die Leute in den Bildern rumlaufen oder auch einen Zug aufs Publikum zurasen, allein, die Tonspur war noch nicht erfunden. Ohne echten Sound aber gibt’s auch keinen echten Thrill, war man sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts einig. Und behalf sich zunächst mit einer dem Bild eher fremden Kunst: der Musik. Und setzte zur Steigerung der Dramatik der Filmaufführung ein Orchester hinzu.

Die Filmmusik war also nur eine Notlösung. In den dreißiger Jahren muss dieses Wissen abhanden gekommen sein, und eine neues Filmgenre entstand: das Musical. Rasante Action wurde in Notzeiten ersetzt von, träller, träller, rasanten Gesängen. Die Filmkomposition auf ihrem Höhepunkt, keine Frage: Das Musikalische bestimmte das Dramatische. Die ersten, die den durchschlagenden Erfolg solcher Produkte begriffen, waren Hollywood-Produzenten. Der zweite, der mitkriegte, was die Stunde geschlagen hatte, war Stalin: Der verordnete seiner Filmindustrie Musicals; die Leute kämen gut drauf davon. Aber selbst Stalin kam erst auf diese Idee, als Hitler die Sowjetunion angegriffen hatte. Dann war erst mal Ruhe.

Erlebt das Musical nun eine Renaissance? Im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale fanden sich gleich zwei Musicals, einmal das holländische »Ja, Schwester, Nein, Schwester«. Das andere wurde gleich zum Eröffnungsfilm erklärt: »Chicago«. Darin spielen die im Musical unerfahrenen Darsteller Renée Zellweger, Catherine Zeta-Jones und Richard Gere ein paar singende Voll- bzw. Halbkriminelle im Chicago der dreißiger Jahre: Die naive Roxie (Zellweger) erschießt ihren Liebhaber und kommt in den Knast. Ihr großer Traum: eine Showkarriere. Warum nicht beides verbinden? Action, Tempo, Dramatik, Heulen und Zähneklappern – wann sollte das eintreten, wenn nicht angesichts des elektrischen Stuhls? Vielleicht, denkt sie sich, kann ich so den Bühnenstar Velma (Zeta-Jones) vom Thron stoßen. Und schon steht der windige Anwalt Billy Flynn vor der Zellentür. Dann überschlagen sich die Ereignisse. Und die Töne.

Ja, liebe Zuhörerinnen und -hörer – ihr seht und hört ein großes Spektakel von Mord und Totschlag, Korruption, Sex und Gewalt. Und alles, was man hier tun muss, ist sich die Ohren zuzuhalten – vor allem, wenn Renée Zellweger die Bühne betritt. Die anderen gehen sogar noch. Oh, welch grandioses, großes, blödes Knallbonbon der Filmgeschichte. Ein gutes Musical! – Wenn die Singerei nicht wäre – es hätte ein noch viel besseres werden können.

jürgen kiontke

»Chicago«. USA/Can 2002. R: Rob Marshall. Start: 27. Februar