Voluntaristischer Brückenschlag

Schusswechsel mit Rotbrigadisten von egon günther

Nach der Festnahme der italienischen Rotbrigadistin Nadia Lioce hat sich der Verdacht wohl erledigt, von irgendwem gesteuerte Rote Brigaden verübten, selbstverständlich zum Frommen der jeweils Regierenden, immer zur passenden Zeit Anschläge. Bei einer Schießerei, die sich vergangene Woche nach einer angeblichen Polizeikontrolle im Zug von Rom nach Arezzo ereignete, wurde der Eisenbahnpolizist Emanuele Petri (48) getötet, ein weiterer schwer verwundet und der von der Polizei der Kontakte zu den Roten Brigaden (BR) verdächtigte Mario Galesi (37) tödlich verletzt.

Nach Galesi und Lioce wurde im Zusammenhang mit dem Mord an den Regierungsberatern Massimo D’Antona und Marco Biagi gefahndet. Dazu hatten sich die BR bekannt. Die Attentate ereigneten sich damals auf den Höhepunkten linker Mobilisierungen, einmal gegen den Kosovokrieg, das andere Mal am Vorabend des Generalstreiks gegen die Lockerung des Kündigungsschutzes.

Galesi starb nach einer Operation an seinen Verletzungen. Nadia Lioce erklärte sich unmittelbar nach ihrer Verhaftung zur »politischen Gefangenen«. In der Haftanstalt von Florenz verfasste sie eine zehnseitige Erklärung. Darin stuft sie zunächst den Schusswechsel als ein zufälliges Geschehen ein, das nicht im Interesse der Politik der BR liege.

Diese Erklärung ist ganz im Stil früherer Papiere der BR gehalten, die sich nach eigener Einschätzung zwar immer noch in einer von der alten Führung in den achtziger Jahren eingeleiteten Phase des strategischen Rückzugs befindet, also keineswegs in der Offensive, doch schon länger am Wiederaufbau der »revolutionären und proletarischen Kräfte« arbeiten. Wie bereits in der umfangreichen Analyse ausgeführt ist, die dem Mord an Biagi nachgereicht wurde, schreibt Nadia Lioce, das eigentliche Ziel ihres bewaffneten Kampfes oder Klassenkrieges liege im Angriff auf die wirtschaftspolitischen, sozialen und institutionellen Erneuerungsvorhaben in Italien. Zudem erklärt sie – auch das nichts Neues – in diesem Kampf die »ausgebeuteten und erniedrigten arabischen Massen zu natürlichen Verbündeten des Proletariats in den Metropolen«.

Dieser voluntaristische Brückenschlag zwischen »bewaffnetem Reformismus« und »antiimperialistischem Kampf« lässt das Phänomen der BR in Europa als einzigartig erscheinen. Denn bis auf die IRA und die Eta, die sich zudem ethnisch definieren, sind offenbar alle anderen Projekte dieser Art gescheitert. Und dass die journalistische Unterscheidung zwischen »alten« und »neuen« Roten Brigaden, die ja nicht das Alter der jeweiligen Mitglieder dieser Gruppe meint, eine obsolete ist, hätte bereits die Wahrnehmung der so genannten unbeugsamen Gefangenen in den italienischen Knästen zeigen können. Sie sind über die Jahre hinweg bei ihren Auffassungen geblieben und verlasen zu den fälligen Prozessen die entsprechenden Erklärungen.

Unabhängig von der Konjunktur der Bewegungen richtet sich der leninistische Kalender der BR nach eigenen Daten. Warum er noch nicht wie anderswo abgelaufen ist, ist allerdings eine Frage, deren Beantwortung den Rahmen eines kurzen Zeitungsartikels sprengt. Nur so viel: Die letzten 20 Jahre waren in Italien nicht bloß Jahre der Ebbe nach einem langen roten Jahrzehnt. In einer diffusen Subkultur haben sich viele revolutionäre und autonomistische Vorstellungen erhalten. Mario Galesi ist zum Beispiel in dieser Subkultur aufgewachsen. Die »disobbedienti« allerdings ebenfalls.