Das Altern des Ego

Philip Roth erzählt die nicht eben einmalige Geschichte vom Professor, der seine Studentin liebt, auf ziehmlich einmalige Weise. von richard gebhardt

Als im vergangenen Jahr mit »Der menschliche Makel« der letzte Teil der Amerika-Trilogie von Philip Roth in deutscher Übersetzung erschien, überschlugen sich die Kritiker vor Begeisterung. Roth schildert in dieser großartigen Abrechnung mit der »Tyrannei des Wir« den Niedergang des alternden Hochschullehrers Coleman Silk, der wegen einer angeblich rassistischen Äußerung geschasst wird, um Rehabilitation kämpft und eine leidenschaftliche Affäre mit einer 34jährigen Putzfrau beginnt. Silk konnte dem Gefängnis der Identität einst nur durch die Verleugnung seiner afro-amerikanischen Herkunft entkommen.

Inspiriert von authentischen Fällen wie dem des aus einer schwarzen Familie stammenden Literaturkritikers Anatole Broyard, der seine Karriere bei der New York Times als »Weißer« begann, gelingt Roth eine bestechende Kritik des US-amerikanischen Rassismus, den Afro-Amerikaner mit besonders heller Hautpigmentierung in der Nachkriegszeit vereinzelt durch passing, durch erfundene weiße Biografien, unterliefen.

Die problematischen Aspekte von Roths Komposition, der von – stets gefährdeter – männlicher Dominanz geprägte Blick auf die Sexualität und die Verdammung der Political Correctness, wurden zwar vor allem in den Vereinigten Staaten diskutiert, waren für die Mehrheit der Rezensenten und Leser jedoch schlimmstenfalls ein kleiner Makel im großen Gesellschaftspanorama eines der klassischen Erzählkunst verpflichteten Literaten.

Auch in Roths neuem Werk, dem 25. seit Beginn seiner Schriftstellerkarriere Ende der fünfziger Jahre, steht ein ergrauter Intellektueller im Mittelpunkt, und auch er pflegt eine obsessive Affäre mit einer bedeutend jüngeren Frau, der Studentin Consuela Castillo, einer Tochter reicher Exilkubaner. Der Kulturkritiker David Kepesh – für die Roth-Gemeinde seit der Erzählung »Die Brust« und dem Roman »Professor der Begierde« kein Unbekannter – richtet sich als nun 70jähriger Erzähler mit einem dramatischen Monolog an seinen unsichtbaren Zuhörer, um die acht Jahre zurückliegende Geschichte seiner amour fou zu berichten, eine Geschichte, die zugleich zu einem persönlichen Rechenschaftsbericht wird.

Mit dieser Rückblende wendet sich Roth in »Das sterbende Tier« einem seiner zentralen Motive zu: der minutiösen, bisweilen drastischen Thematisierung erotischer Begierden, Leidenschaften und Verwerfungen, die zugleich eine wortgewaltige Verteidigung der Lust gegen das protestantische Amerika der moral majority, gegen die puritanische Vernachlässigung der Sexualität ist. Professor Kepesh, Collegedozent und TV-Kulturguide, der zur Zeit der Studentenrevolte Frau und Kind verließ, beginnt im Anschluss an seine traditionelle, nach dem Ende des Oberseminars über »Praktische Kritik« stattfindende Party eine Beziehung mit seiner einstigen Studentin. Er, der in den späten Sechzigern der Enge einer bürgerlichen Ehe entfloh, wird immer abhängiger von seiner Geliebten. Indem Kepesh die Geschichte seiner Liebe und seines Leidens nach dem abrupten Ende der Affäre Revue passieren lässt, offenbart er seinem Gegenüber schonungslos die Geschichte seiner Befreiung aus den Zwängen der familiären Bindung und dem daraus resultierenden Konflikt mit seinem Sohn, der ihn wegen seines Lebensstils hasst und dennoch nicht von ihm loskommt. Er spricht über seine Ängste vor Alter und Verfall, über seine Eifersucht während seiner Zeit mit der von ihm vergötterten Consuela und über seine panische Angst, mit einem jüngeren Liebhaber konkurrieren zu müssen. Kepesh, der sich der Nähe stets entziehen wollte, gerät durch Consuela in die Falle der Abhängigkeit.

Immer schon war für Roth Sexualität ein Indikator dafür, wie frei eine Gesellschaft wirklich ist, und während sein Protagonist eine Bilanz der US-amerikanischen Studentenbewegung zieht, entwickelt sich der Monolog zu einer Verteidigung der Freiheit des Individuums gegen das Diktat der Konvention und Tugend, zu einer gnadenlosen Abrechnung mit jenen Instanzen, die die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten und die Einlösung der Glücksversprechungen reglementieren. War in »Der menschliche Makel« die öffentliche Denunziation Bill Clintons während der Lewinsky-Affäre Gegenstand der Kritik der repressiven Moral, erinnert sich Roths Protagonist David Kepesh nun mit Wehmut und Respekt an seine Studentin Janie Wyatt, im Buch eine Kämpferin der 68er-Bewegung, die den Anspruch auf Lust öffentlich auslebte und damit auch demokratisierte. Das ist die sexuelle Befreiung, die Kepesh meint: mit der Studentenrevolte auf den US-Colleges würdigt er »eine Generation von Frauen, die ihre Schlüsse über das Wesen der Erfahrung und die Freuden des Lebens aus dem zogen, was ihre Mösen ihnen sagten«. Frauen, die dafür sorgten, dass in der neuen Generation »erstaunliche Fellatorinnen« heranwuchsen.

Manche Leser und zuweilen auch Kritiker neigen dazu, Roth für einen autobiografischen Autor, seine Werke für Schlüsselromane, die berühmten Helden Nathan Zuckermann oder David Kepesh für sein alterndes alter ego zu halten. Dieses im Kern aliterarische Urteil, welches hinter dem fiktionalen Anteil vielleicht reale Dramen in Roths berühmter Schreibwerkstatt in Connecticut vermutet, vernachlässigt die Bedeutung der ästhetischen Gestaltung des Stoffes. Und hier, in der Ambivalenz der Figur, in der zwiespältigen Zeichnung des David Kepesh und seiner Erzählperspektive, seinem teilweise abgeschmackten Exkurs über »Genuss, Erfahrung und Alter« liegt eine gewisse Zumutung: Virtuose Abhandlungen über Sexualität, fast essayistische Reden über die Freiheit persönlichen Handelns und gedankenschwere Passagen zur Vater-Sohn-Beziehung korrespondieren in »Das sterbende Tier« mit einer nicht selten kruden Schilderung weiblicher Figuren. Über Consuela heißt es: »Ein großes Herz, ein hübsches Gesicht, ein einladender und zugleich zurückhaltender Blick, herrliche Brüste – eine Frau, die erst vor so kurzer Zeit geschlüpft war, dass ich nicht überrascht gewesen wäre, wenn an ihrer glatten, eiförmig gekrümmten Stirn noch Schalenstückchen geklebt hätten.«

Fast komische Sätze wie dieser, der für die von Roth geschaffene Person durchaus stimmig ist, finden sich häufig in diesem kleinen Roman. Doch trotz der Altmännerphantasien seines in Affäre, Leid und Autonomiewunsch verstrickten Helden gelingen Roth wieder anrührende Szenen, etwa wenn der einstige Professor der Begierde, der sich der Bindungslosigkeit verschrieben hatte, seine Angst vor der Einsamkeit offenbart. Oder wenn in den erotischen Schilderungen seine sexuelle Hingabe als Auflehnung gegen den Tod gedeutet wird, wenn der alternde Ego- und Erotomane plötzlich mit dem Verfall konfrontiert wird.

In der vielleicht stärksten Passage, dem überraschenden Wiedersehen mit Consuela kurz vor dem Jahrtausendwechsel, bei dem Kepesh ihren von der Krebskrankheit gezeichneten Körper wahrnimmt, schauen sich die beiden im Fernsehen die weltweiten Millenniumsfeiern an. Diese Streifzüge durch Paris, New York und Kuba, die beiläufige, fast hellseherische Erwähnung bin Ladens während der Betrachtung eines Feuerwerks – in den USA erschien »The Dying Animal« Monate vor dem 11. September 2001 – schaffen eine Unruhe, die sowohl aus der Situation der beiden verzweifelten Zuschauer als auch aus der Nervosität der Jahrtausendwende herrührt.

Kepesh, dessen Identität zwischen kulturbeflissenem Gentleman und »verkommenem Lüstling« changiert, wandelt sich vom Sex-Maniac zum depressiven Endsechziger und schließlich zum besorgten Ex-Liebhaber. Die Entwicklung der Figur wird nicht abgeschlossen, der Schluss ist bewusst offen, wenn der bis dahin unsichtbare Zuhörer Kepeshs Postulat der Freiheit und Ablehnung von Bindung gegen seinen unsicher gewordenen Protagonisten richtet. Hier gerät das Buch, das thematisch eng mit Roths letzten Romanen verknüpft ist, zu einer fortwährenden Reflexion über individuelle Entscheidungsfreiheit im Angesicht von Alter, Verfall und Tod. Und es zeigt – trotz aller Probleme – die Meisterschaft des Autors, einer fragwürdigen, widerstrebenden Figur Momente von Wahrhaftigkeit und Menschlichkeit einzuhauchen.

Philip Roth: Das sterbende Tier. Roman. Hanser, München 2003, 168 S., 16,90 Euro