»Kritik an USA schafft ein Wir-Gefühl«

Der Politologe andrei s. markovits erforscht an der Harvard University und der University of Michigan die transatlantischen Beziehungen

Das Verhältnis zwischen »Old Europe« und den Vereinigten Staaten hat sich seit Monaten enorm verschlechtert. Wie ist es dazu gekommen?

Diese Verschlechterung hat bereits eine lange Geschichte. Begonnen hat sie spätestens mit dem Wegfall der Sowjetunion, und sie hat zu 95 Prozent strukturelle Gründe. Einen gemeinsamen Feind gibt es nicht mehr – zumindest wird das in Europa so gesehen – und Europa wird eine neue Supermacht. Und wenn die Nummer eins disproportional stark ist, verbünden sich zwangsläufig Nummer zwei, drei und vier. Es gibt ein gewisses machtpolitisches Vakuum, und in dieses steigt jetzt Europa ein. Zugleich wird Amerika als Schutzmacht nicht mehr gebraucht.

Seit Beginn der neunziger Jahre distanziert sich auch die europäische Öffentlichkeit mehr und mehr von den USA, das lässt sich an Meinungsumfragen beobachten. Diese Entwicklung hat sich unglaublich beschleunigt, weil George W. Bush auch eine herrliche Figur ist, um den »ugly American« für die Europäer so willkommen und stilgerecht zu verkörpern.

Und das wurde dann bei den letzten Wahlen in Deutschland ausgenutzt?

Gerhard Schröder hat ein wunderbares Gespür für derartige Stimmungen, er hat sie ausgenutzt und nicht zuletzt mit ihnen die Wahl gewonnen. Damit war Deutschland als erster Staat aus dem Irakspiel ausgestiegen. Deutschland ist, auch wenn das die Franzosen nicht gerne hören, die erste Macht Europas. Frankreich ist aus begreiflichen Gründen auf den Zug aufgesprungen: Nur über Europa kann Frankreich an alte Großmachtträume anknüpfen, die es nie abgelegt hat.

Ein interessanter Aspekt ist die französische Reaktion auf den britischen Sechspunktevorschlag für die UN. Die Franzosen haben diesen Vorschlag noch vor dem Irak abgelehnt. Das erinnert ein wenig an das alte sowjetische »Njet!« – ein apriorisches Nein gegen alles, was die verhassten Angelsachsen wollen oder sagen. Vermutlich hatten die Franzosen den britischen Vorschlag noch nicht einmal gelesen.

Auch die rhetorischen Einsätze werden immer höher geschraubt. Wie ist Donald Rumsfelds Spruch vom »alten Europa« zu bewerten?

Ich kann Donald Rumsfeld aus den verschiedensten Gründen nicht ausstehen, aber mit dem »alten Europa« hat er nicht ganz Unrecht. Seit 1989 gibt es unstrittig ein neues Europa, umso mehr, als nun die osteuropäischen Staaten dazukommen. Hätte Rumsfeld das einfach geschrieben, hätten sich wohl weniger Leute so aufgeregt wie auf den Seiten der FAZ. Schließlich sind die Europäer ja immer sehr bedacht auf ihre Traditionen, ihre alte Kultur usw. Und Rumsfeld hat ja nicht von einem schwachen Europa oder ähnlichem gesprochen, was negativ konnotiert wäre. Aber Rumsfelds Mimik und seine Handbewegung dazu machten klar, dass er in diesem Moment »alt« im Sinne von »nicht mehr relevant« gebrauchte. Und das kam verständlicherweise in Europa nicht gut an.

Nun hat sich an der Frage des Irakkriegs erstmals die Achse Paris–Berlin–Moskau herausgebildet. Ist das nicht seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs das worst case scenario für jede US-Regierung?

Absolut. Leuten wie Cheney, Rumsfeld, Wolfowitz scheint das aber völlig egal zu sein.

Diese Achse wird nicht unbedingt auf allen Gebieten eine dauerhafte sein. Strukturell aber wird es sie geben, auch ohne den Konflikt um den Irak. Bis etwa 1990 hat die deutsche Politik immer zwischen Paris und Washington balanciert. Heute muss sich Deutschland an Frankreich orientieren, das ist tatsächlich noch »Old Europe«.

Für Russland sind die Verbindungen zu Deutschland und Westeuropa letztlich auch wichtiger als die zu den weit entfernten USA. Sicher stellt die Achse Paris–Berlin– Moskau eine bedenkliche Allianz für Washington dar. Ob das aber eine bedrohliche Allianz wird, ist zweifelhaft. Diese Achse ist eben auch Teil eines »New Europe«, das – ungleich dem von Rumsfeld so gelobten – in Washington weniger Beifall finden wird.

Wie wird sich das Verhältnis zwischen den transatlantischen Partnern von gestern entwickeln?

Die Konfrontation war in der Tendenz bereits da, und der Irakkonflikt hat sich als ein den Konflikt verschärfendes Moment herausgestellt. Es gibt dauernd Streitereien, die damit zu tun haben, dass sich zwei mächtige Blöcke gegenüberstehen.

Beim Irak spielt diese Rivalität natürlich auch eine Rolle, denkt man etwa an Russland und seine Milliardenverträge mit Saddam Husseins Regime. Auch Frankreich ist schon lange im Irak involviert, seit den siebziger Jahren insbesondere über Jacques Chirac. Ich gehe davon aus, dass die transatlantischen Partner noch stärker auseinanderdriften.

Was könnte auf ideologischer Ebene ein verbindendes Element für Europa darstellen?

Da dürfte die Frage des »Gegen-Amerika-Seins« eine wichtige Rolle spielen. Es ist unklar, was ein »europäisches Bewusstsein« ist, außer dass es irgendwelche Eurokraten in Brüssel gibt. Nach Untersuchungen rangiert auf der Palette von Werten das Europäisch-Sein immer noch weit unter dem Lokalen, dem Regionalen und dem Nationalen.

Natürlich sitzt niemand in Paris, Berlin oder Brüssel und tüftelt über der Frage: »Wie schaffen wir ein europäisches Bewusstsein?« Eins aber ist klar: Dafür braucht man unbedingt etwas, was man nicht ist, den »Anderen«, wie Anthropologen sagen.

Und in diesem Sinne hat eine Mobilisierung gegen die USA auch einen Bewusstseinseffekt: Mehr Menschen in Europa werden »Europäer«. Durch die Friedensdemonstrationen entsteht eine Art europäischer Diskurs, der aussagt: »Wir sind nicht Amerikaner.« Das kreiert ein europäisches Wir-Gefühl.

Der ehemalige französische Wirtschafts- und Finanzminister Dominique Strauss-Kahn sieht dies genauso. Für ihn ist am 15. Februar »auf der Straße« die »europäische Nation« geboren worden. Aber gab es da nicht auch in den USA Friedensdemonstrationen?

Natürlich gab es die, mit Riesenzahlen in New York, San Francisco, allen amerikanischen Großstädten, aber auch in Kleinstädten. Was beim Vietnamkrieg Jahre brauchte, ist diesmal in Wochen passiert. Aber diese amerikanischen Proteste und natürlich auch die anderen außereuropäischen sind Herrn Strauss-Kahn egal. Er sieht – meines Erachtens richtig –, dass da ein mobilisierendes Gemeinschaftsmoment entstand, eine Art protonationales Bewusstsein. Die einzige Möglichkeit, wodurch sich dieses Moment abschwächen ließe und sich Europa wieder den USA annäherte, wäre ein gemeinsamer Feind. Dann würden sich auch die Europäer gegen den neuen Feind, den Islamismus oder wen auch immer, mobilisieren – sogar mit den Amerikanern, wenn es sein muss. Doch das wird nur passieren, wenn beispielsweise al-Qaida den Eiffelturm niederbombt. Oder den Reichstag.

interview: bernd beier