Das letzte Bollwerk

In Frankreich hat die sozialistische Opposition zur »heiligen Union« mit der konservativen Regierung aufgerufen. von bernhard schmid, paris

Als die letzten Teilnehmer den Pariser Place de la République verlassen, bietet sich hinter ihren Reihen ein martialisches Bild. Die Bereitschaftspolizei CRS zieht ihre Räumpanzer und anderes schweres Gerät ab, die an diesem Tag, neben 5 000 Polizisten und Gendarmen, aufgeboten wurden. Die Behörden befürchten, dass sich die Proteste vom vorletzten Samstag radikalisieren könnten. Ihre Sorge galt vor allem der Immigrantenjugend aus den Banlieues, die sich in größerer Zahl der Antikriegsdemonstration anschließen könnte.

Während die Polizei die Jugendlichen aus den Vorstädten im Visier hatte, beschäftigten sich die teilnehmenden Gruppen der radikalen Linken mit der Haltung der franzöischen Regierung. »Nein zur nationalen Einheit hinter Chirac«, heißt es dazu in vielen Flugblättern. Bemerkenswert ist, dass gerade die antiimperialistischen Gruppen, die sonst vorwiegend die USA kritisieren, nun auch die union nationale, den nationalen Schulterschluss, und die Rolle Frankreichs in Afrika thematisieren. Bei den französischen Trotzkisten ist zugleich die Rede davon, dass Regierungen und Institutionen wie die Uno kein geeignetes Mittel darstellt, um Kriege zu verhindern. Die Jungsozialisten fabulieren hingegen von Frankreichs möglicher Rolle bei der Weiterentwicklung des Völkerrechts.

Doch die Frage, wie vertrauenswürdig die Haltung von Staatspräsident Jacques Chirac ist, stellt sich nicht so sehr für jene, die in diesen Tagen auf die Straße gehen, sondern für den Rest der Gesellschaft. Eine Umfrage des Instituts CAS vom vergangen Donnerstag belegt, dass Chirac so beliebt ist wie noch nie. Demnach erreichte er einen Rekordwert von 75 Prozent und konnte damit in einem Monat um elf Punkte zulegen. Zwar wissen viele Franzosen, dass die Regierung diesen Bonus zugleich nutzt, um den Sozialabbau voranzutreiben. Doch dafür muss im Moment allein Premierminister Jean-Pierre Raffarin büßen, der in der öffentlichen Meinung zunehmend an Gunst verliert

In gewisser Weise ist es Chirac gelungen, die innenpolitischen Fronten aus der Präsidentschaftswahl vom April und Anfang Mai 2002 wieder zu beleben. Damals war er überraschend in der Stichwahl mit dem Rechtsextremisten Jean-Marie Le Pen konfrontiert. Chirac stellte sich damals als »letztes Bollwerk gegen den Faschismus« dar, um die Stimmen der Linken zu gewinnen. Nun versucht er, sich als »letztes Bollwerk gegen den Krieg« zu profilieren.

Damit gräbt er vor allem der sozialistischen Oppositionspartei das Wasser ab. Deren Stand ist tatsächlich schwierig. Würde sie versuchen, Chiracs Anti-Kriegshaltung zu übertrumpfen, so könnte man sie daran erinnern, dass sich 1991 eine sozialistische Regierung mit 15 000 französischen Soldaten am damaligen Golfkrieg beteiligte. Die zahlenmäßig bedeutendste Parlamentsopposition hält sich daher derzeit mit Kritik zurück, und ihr Fraktionsvorsitzender Jean-Marc Ayrault sprach gar explizit einer union sacrée das Wort. Dieser Begriff der »heiligen Union« bezeichnet in Frankreich den innenpolitischen Schulterschluss zu Beginn des Ersten Weltkriegs, der durch die Zustimmung der Sozialdemokraten zum Krieg möglich wurde.

Aber auch ein zweiter innenpolitischer Akteur sieht sich durch Chirac den Wind aus den Segeln genommen, nämlich die extreme Rechte unter Jean-Marie Le Pen. Anfang der neunziger Jahre verurteilte sie als einzige stärkere Kraft auf der Rechten den damaligen Krieg. Der Parteichef des Front National (FN) solidarisierte sich damals sogar mit dem irakischen Präsidenten Saddam Hussein, den er im November 1990 besuchte.

Solches Tun war aber innerhalb der FN-Wählerschaft keineswegs populär. Auch heute hat die extreme Rechte mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Einerseits befürwortet ein Teil ihrer Wähler einen Krieg gegen ein arabisches Land – der Anteil an offenen Kriegsbefürwortern ist dort mit etwa 35 Prozent sogar unter allen Parteien am höchsten. Andererseits kann Le Pen wegen Chiracs Position kaum von der Antikriegsstimmung profitieren, und seine Solidarität mit dem herrschenden Regime in Bagdad ist wenig beliebt.

Hingegen sind die Kommunistische Partei und die radikale Linke, die das Gros der Antikriegsdemonstranten stellen, vom »Chirac-Effekt« kaum berührt. Allerdings appellierte das KP-Umfeld, das auch traditionelle pazifistische Organisationen wie den Mouvement de la paix (Bewegung für den Frieden) umfasst, bis vor kurzem noch an Chirac, er möge das französische Veto im UN-Sicherheitsrat einlegen. Die radikale Linke lehnt diesen positiven Bezug auf Chirac ab und interpretiert die Auseinandersetzungen zwischen ihm und der US-Regierung als Konflikt zwischen zwei imperialistischen Mächten, in dem man keine Seite zu unterstützen habe.

Zu Beginn des Jahres hatte die patriotische Wochenzeitschrift Marianne noch versucht, die Antikriegsbewegung auf einen nationalistischen Kurs »jenseits von links und rechts« zu bringen. Für einen Aufruf gegen den Irakkrieg konnte sie die Unterschrift von 15 konservativen Parlamentariern gewinnen. Aber ihr Versuch, eine »nationale Union für den Frieden« auf der Straße zu schaffen, misslang da die politische Rechte an den Demonstrationen nicht teilnimmt, die in einem hohen Maße von linken oder migrantischen Gruppen geprägt sind.

Vor allem am Aktionstag der Schüler und Studenten am vergangenen Dienstag zeigte sich, dass die Immigranten aus nordafrikanischen und arabischen Ländern eine zentrale Rolle spielen. Dabei tritt mitunter auch der Wunsch, sich mit »den palästinensischen und irakischen Brüdern« zu identifizieren, an den Tag. Allerdings ist das Feiern von Hussein als einem »Helden, der als einziger den Amerikanern widersteht«, bei weitem nicht so verbreitet wie während des zweiten Golfkrieges. Die Mehrheit dieser Jugendlichen zeigt sich illusionslos über das Regime und betont, ihre Solidarität gelte der irakischen Bevölkerung.

Doch die kommunitaristischen Gefühle sorgten am vorletzten Samstag auch für einen hässlichen Zwischenfall, als am Rande der Demonstration Mitglieder der sozialistisch-zionistischen Vereinigung Hashomer Hatzair angegriffen wurden. Eines von ihnen erlitt dabei Kopfverletzungen. Eine Gruppe von Jugendlichen aus den Banlieues hatte sich durch die am Rande stehenden und beobachtenden Kipaträger »provoziert« gefühlt. Tatsächlich war das Ziel der Beobachter, eine eigene Teilnahme an den Demonstrationen vorzubereiten. Die Veranstalter distanzierten sich nach dem Vorfall verhement von den Angreifern und verurteilten die Übergriffe.

In anderen Fällen nimmt der Wunsch, sich zu identifizieren, auch skurrile Formen an. So etwa, wenn sich Jugendliche aus den Banlieues plötzlich positiv auf Chirac beziehen. Offenbar sehen sie darin einen Weg, nun endlich auch einmal zur Gesellschaft zu gehören.