Wasser den Hütten!

US-Truppen stehen bereits im Zentrum von Bagdad. Die Befreiung der irakischen Bevölkerung scheint nahe, wenn sie den Krieg überlebt. von martin schwarz, wien

Dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) in Genf wird derzeit ein Glück zuteil, das die vom Bankrott bedrohten Hilfsorganisationen der UN nur selten erleben: Der Organisation stehen 40 Millionen US-Dollar zur Verfügung, die keiner haben will.

Diesen Betrag sammelten die Flüchtlingshelfer in den Monaten vor dem Irakkrieg in diversen Geberstaaten, um für eine drohende Massenflucht gewappnet zu sein. 600 000 Iraker würden möglicherweise den Kampfhandlungen entfliehen wollen und die Grenzen zum Iran und Jordanien überschreiten, so lauteten die Schätzungen.

Eilig wurden vor allem im Iran Zeltstädte errichtet, die nun leer stehen. Mit 300 000 traumatisierten Flüchtlingen rechnete man dort. »Wir konnten weder in Jordanien noch im Iran einen einzigen Flüchtling entdecken. Mittlerweile haben wir den Bau der Flüchtlingslager gestoppt«, sagt Kris Janovsky, ein Sprecher des UNHCR, der Jungle World.

Auch in Jordanien wird darüber nachgedacht, die riesigen Flüchtlingslager an der Grenze zum Irak teilweise wieder abzubauen. Denn die einzigen Menschen, die hier die Grenze überschritten, waren 1 000 arabische und afrikanische Gastarbeiter, die aus dem Irak flüchteten. Warum bisher kein einziger Iraker gekommen ist, ist für Janovsky ein Rätsel: »Irgendwie ist das schon sehr seltsam. Ich kann nur vermuten, dass sich das irakische Regime bemüht, Flüchtlinge zurückzuhalten, um Normalität zu suggerieren.«

Das allein aber ist keine befriedigende Erklärung. Immerhin muss sich das irakische Regime um das eigene Schicksal Gedanken machen und die letzten verfügbaren militärischen Kräfte in die Schlacht gegen die Amerikaner führen, statt sich um Untertanen zu kümmern, die fliehen wollen. Selbst die Massenflucht, von der am Wochenende aus Bagdad berichtet wurde, ist bei den UNHCR-Mitarbeitern noch kein Thema. Viele, die derzeit aus der umkämpften Hauptstadt fliehen, dürften wohl Binnenflüchtlinge bleiben und sich in noch ruhige Regionen des Landes zurückziehen. Sie fallen daher nicht unmittelbar in den Verantwortungsbereich des UNHCR. Denn für die Genfer Organisation ist nur derjenige ein Flüchtling, der auf seiner Flucht eine Staatsgrenze passiert.

Bagdad zu verlassen, wird in diesen Tagen immer mehr zu einer lebensrettenden Maßnahme, nicht nur für Soldaten der irakischen Armee, die seit dem Vorstoß amerikanischer Truppen am Wochenende mindestens 2 000 Mann verloren haben soll, sondern auch und vor allem für Zivilisten.

Denn nach dem »chirurgisch geführten Krieg« der Alliierten gegen die Zentren der Macht droht nun ein längerer Belagerungszustand, unterbrochen von vielen kleinen Vorstößen der Alliierten in die inneren Stadtbezirke. Der Feind sitzt nicht mehr in den Bunkern der Ministerien, der Militärlager oder der Präsidentenpaläste, sondern versteckt sich mitten in den Wohngebieten, wo auch die noch verbliebenen Zivilisten leben.

»Shock and awe« werden für einige der sechs Millionen Einwohner Bagdads nun Realität. Denn schon in der vergangenen Woche begann, wovor Menschenrechtler und Kriegsgegner warnten: der Übergang von relativ präzisen Bombenabwürfen zu Angriffen, die nicht mehr sonderlich zwischen dem Feind und der Bevölkerung unterscheiden. Nach einer Schätzung der Organisation Iraq Body Count vom Wochenanfang, die auf der Basis verschiedener Quellen die Anzahl ziviler Opfer zu bestimmen versucht, sollen bisher zwischen 877 und 1 050 Zivilisten bei den Kämpfen im Irak ums Leben gekommen sein.

Das vielleicht erste Opfer dieses Krieges hat Shane Claiborne, ein junger Amerikaner aus Philadelphia, in Bagdad persönlich gesehen. »Nach dem allerersten Bombardement habe ich ein Krankenhaus in Bagdad besucht und habe dort die vierjährige Doha und ihren Vater kennen gelernt. Doha war schwer verletzt und eigentlich das erste Opfer dieses Krieges. Ihr Vater hat mir gesagt: ›Wenn Eure Befreiung so aussieht, dann können wir darauf verzichten.‹«

Auch Mohammed, der vom Regime bestellte Begleiter des amerikanischen Friedensaktivisten, wurde indirekt Opfer der Bombardements; eine Rakete schlug in der Nähe seines Hauses ein, seine Frau und sein Sohn wurden dabei verletzt. Möglicherweise handelte es sich um eine Splitterbombe. Diese Waffe wird von der US-Luftwaffe nun verstärkt auch im Stadtgebiet von Bagdad eingesetzt, um dort verschanzte Einheiten der irakischen Armee zu bekämpfen.

Am 27. März traf nach Angaben des Iraq Peace Teams (IPT) eine Splitterbombe das Haus der Familie Hassawi im Norden Bagdads. Alle drei Familienmitglieder sollen schwer verletzt worden sein. Einen Tag später soll eine Bombe gleicher Bauart am al-Nasser-Markt im Bezirk al-Sholeh im Norden der Stadt eingeschlagen sein. Dabei starben 57 Menschen.

Die Verletzten haben in den Krankenhäusern der umkämpften Stadt schlechte Aussichten auf eine ausreichende medizinische Behandlung. Die großen Kliniken Bagdads sind vollkommen überfüllt, die Ärzte überfordert.

Das ist nicht nur in der irakischen Hauptstadt so, wie Claiborne aus eigener Erfahrung weiß. Er floh gemeinsam mit elf anderen Friedensaktivisten am 1. April aus Bagdad, doch auf ihrer Fahrt auf der Autobahn nach Amman platzte ein Reifen und es kam zu einem Unfall, bei dem einige der Fliehenden verletzt wurden. »Unser Auto war kaputt, und im Straßengraben rings um uns waren ständig Explosionen zu hören. Iraker haben dann angehalten und wollten uns zur nächstgelegenen Kinderklinik in der Stadt Rutpa bringen«, erzählt Claiborne.

Doch von dem Kinderkrankenhaus war nicht mehr viel übrig. Eine Bombe hatte es in eine Ruine verwandelt. Offensichtlich hatte sich die US-Luftwaffe geirrt, wie so oft in den vergangen Tagen. In einem anderen Krankenhaus wurden die amerikanischen Friedensaktivisten dann von den ohnehin überforderten irakischen Ärzten behandelt. »Die wollten nicht einmal Geld von uns.«

Das medizinische Versorgungssystem des Landes ist fast völlig zusammengebrochen. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation werden zur Reparatur des Gesundheitswesens und zur Wiederherstellung der Wasserversorgung dringend 325 Millionen US-Dollar benötigt. Doch selbst wenn die WHO über diese Summe verfügte, könnte sie kaum helfen. Ein Notfallteam der WHO wartet seit Wochen im Hotel Intercontinental in der jordanischen Hauptstadt Amman und kann nicht in den Irak einreisen.

Alle Verhandlungen mit der »Koalition der Willigen« über Sicherheitsgarantien für die Ärzte und Helfer scheiterten bislang. Zuerst, so scheint es, muss der Krieg gewonnen und Saddam Hussein gestürzt werden. Ist dieses Ziel erst einmal erreicht, können die Befreiten auch behandelt werden.

Immerhin, das Rote Kreuz hat es in den vergangenen Tagen geschafft, 10 000 Liter Wasser an zwei Krankenhäuser im Südirak zu liefern. Wehe dem, der in dieser Gegend nicht im Krankenhaus liegt! Rund 1,5 Millionen Menschen in der Gegend rund um Basra sind derzeit von der Wasserversorgung abgeschnitten.