Eine Lobby fürs Gemeinwohl

Am liebsten würden sich die Gewerkschaften mit der Bundesregierung versöhnen. Der Konsens ist greifbar nahe, aber die Schaukämpfe sollen sie noch gefügiger machen. von andreas benl

Kaum ist der Krieg im Irak beendet, da scheint die Schlacht im Inland weiterzugehen: »Jetzt haben die (Gewerkschafts-) Funktionäre Schröder den Krieg erklärt«, schreibt der Spiegel. SPD-Führer argwöhnten, dass die von sozialdemokratischen Hinterbänklern initiierte Mitgliederbefragung über Schröders Sozialkürzungscharta »Agenda 2010« »letztlich eine Idee aus den Gewerkschaftszentralen« gewesen sei.

Begonnen hatte die Kampagne gegen den DGB vor zwei Monaten mit den Einlassungen des stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU, Friedrich Merz, und des FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle zur angeblichen Blockade ökonomischer Reformen durch die Gewerkschaften. Westerwelle erträumte sich bereits eine Rolle als deutsche Margaret Thatcher, um rücksichtslos die »Entmachtung der Gewerkschaften« durchzusetzen.

Glaubt man den Medien, geht der Riss inzwischen mitten durch die Sozialdemokratie und gefährdet deren Regierungsfähigkeit. Der Kanzler dürfe vor den »SPD-Frondeuren« und ihren gewerkschaftlichen Hintermännern nicht zurückweichen, fordert die Zeit. Große Teile der gewerkschaftsorientierten Basis der SPD verweigerten sich den von Schröder geforderten Maßnahmen zur Sicherung des Wirtschaftsstandorts durch den Abbau des Kündigungsschutzes, die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe und die Einführung von Praxisgebühren für Arztbesuche.

Die Wirklichkeit sieht anders aus. Nach einiger Aufregung über den Aufruf des zweiten Vorsitzenden der IG Metall, Jürgen Peters, in der vorigen Woche, sich am Mitgliederbegehren in der SPD gegen Schröders Agenda 2010 zu beteiligen, geben sich die Gewerkschaften bereits wieder versöhnlich: Die Äußerung sei lediglich die des Privatmannes Peters gewesen.

Hubertus Schmoldt, der Vorsitzende der IG Bergbau Chemie Energie, meint gar, dass die Linie des Kanzler im Großen und Ganzen in Ordnung sei. Andererseits gibt es nicht einmal bei der Union ungeteilte Zustimmung zu den Attacken von Friedrich Merz. Die CDU-Ministerpräsidenten aus dem Saarland und aus Niedersachsen, Peter Müller und Christian Wulff, warnten vor einer offenen Konfrontation mit den Gewerkschaften. Und der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags, Ludwig Georg Braun, bekundete, dass die Reformaufgaben so groß seien, »dass sie wohl nur im Konsens gelöst werden können«.

Die Zerschlagung des geschätzten Sozialpartners steht nicht in Aussicht. Dem Möchtegern-Thatcheristen Westerwelle steht aber auch keine radikalisierte Gewerkschaftsbewegung gegenüber wie die englische der achtziger Jahre. Dass zum Beispiel ein gerichtliches Streikverbot – wie das über die Gewerkschaft der Lokführer verhängte – missachtet würde und deutsche Arbeiter einen wilden Streik organisierten, käme einem Wunder gleich. Die Berliner Zeitung stellt fest: »Das deutsche System der Lohnfindung hat sich bewährt. Streiks sind eine Seltenheit, die Lohnsteigerungen seit Jahren moderat. Niemand bestreitet das bislang wirklich. Auch der Kanzler nicht, was er allerdings noch einmal sehr deutlich sagen müsste.« Denn, so erklärte die Vizevorsitzende von Verdi, Margret Mönig-Raane: »Wahr ist: Gewerkschaften haben sich in Deutschland nie darauf reduzieren lassen, dass sie Lobbyisten ihrer Mitglieder sind.« Man war schließlich immer schon ums nationale Gemeinwohl besorgt.

Eher lässt sich die mediale Simulation eines klassenkämpferischen Showdown als Hinweis an die Gewerkschaften und ihre Klientel lesen, dass ihre Flexibilität noch nicht weit genug gehe. Dabei sind die Maßnahmen zur Senkung des Preises der Ware Arbeitskraft, die der DGB im Rahmen der Hartz-Kommission mitträgt, bereits beachtlich. Die zukünftige Vermittlung in unterbezahlte Leiharbeit sichert der Gewerkschaftsverbund tarifvertraglich ab. Gegen die Verschärfung von Zumutbarkeitskriterien und die Ausweitung von Sperrzeiten formulieren die Gewerkschaften nur vorsichtige Bedenken, leisten keinen prinzipiellen Widerstand. Über Mini-Jobs und Ich-AG schreibt der DGB, er begrüße »die Förderung der Selbstständigkeit und die damit verbundene soziale Absicherung. Es sollte aber genau beobachtet werden, ob die Subventionierung zur Verdrängung anderer Selbstständiger oder abhängig Beschäftigter führt.« Vielleicht ist eine Gewerkschaft der Kleinunternehmer ja bereits in Planung.

Doch nicht nur die Gewerkschaften stehen in der Kritik, auch der Kanzler muss sich nationale Versäumnisse vorhalten lassen. Er habe es nämlich an ideologischer Sinnstiftung für die Sozialkürzungen mangeln lassen, jetzt müsse er sie bis zum SPD-Sonderparteitag im Juni schleunigst nachliefern: »Nun allerdings ist aus der Sinnfrage eine Machtfrage geworden, und deshalb muss er die fünf Wochen bis zum 1. Juni nutzen, um die Sinnlücke zu schließen«, meinen die Zeit-Autoren Elisabeth Niejahr und Bernd Ulrich und machen selbst Vorschläge: »Der sozialdemokratischere Grund müsste so lauten: Zu lange staatliche Alimentierung behebt eine soziale Not nicht mehr, sie verewigt sie. Es ist eine Frage der Menschlichkeit zu helfen, aber eine des Respekts, etwas zu verlangen.« Oder: »Darin liegt die Crux des Umbaus und des Sparens in der Krise: Es gibt zunächst keine materielle Kompensation für erlittene Verluste. Der einzige Zugewinn, den das Deregulieren sofort bringen kann, wäre Freiheit.«

Es steht zu vermuten, dass das soziale Sinnvakuum erst mit dem Fall der Statuen Saddam Husseins in Bagdad wirklich schmerzlich zutage trat, als dem antiamerikanischen Furor der nationale Katzenjammer folgte. Solange sich die kriegserprobte Regierung und die sozialdemokratische Basis gemeinsam gegen die »Hypermacht« USA engagierten, hatte es nämlich keineswegs an Sinn gefehlt. Der nationale ist aber nicht ohne den sozialen Pazifismus zu haben, und so kann die Berliner Zeitung vermuten: »Die Arbeitnehmer werden in diesem Frühling wohl kaum zu Hunderttausenden gegen Kürzungen der Arbeitslosenunterstützung oder gegen die Privatisierung des Krankengeldes auf die Straße gehen. Schon deshalb nicht, weil sie erschöpft sind vom Demonstrieren gegen den Krieg.«

In Deutschland redet man von einer »Amerikanisierung« der Wirtschaft, wenn ökonomische Deregulierung gemeint ist. Wenn der zentrale Unterschied zu den USA in dieser Hinsicht allerdings nur noch darin besteht, dass die als »Raubtierkapitalismus« identifizierten Maßnahmen hierzulande im sozialpartnerschaftlichen Konsens realisiert werden, muss die Verlagerung des sozialen Konflikts auf die nationale Ebene zwangsläufig weitergetrieben werden, damit die kulturelle Distinktion nicht verschwimmt. Und so feiern die Funktionäre des DGB nicht nur ihre Beteiligung an den Hartz-Plänen als Sicherung des Sozialstaats, sie haben auch die Uno als Garantin segensreichen deutschen Einflusses im Nahen Osten wieder entdeckt.

Um Deutschlands Rolle in der Welt wird es sicherlich auch auf der Feier am 1. Mai im Hessenpark gehen. Dort gibt es nach den Worten der DGB-Pressesprecherin Marion Knappe »keine Kundgebung im klassischen Sinn, sondern ein Familienfest mit Tradition« und es werden Bundeskanzler Schröder und der Gewerkschaftsvorsitzende Michael Sommer sprechen. Vielleicht nähern sich dort bereits ihre Positionen an. Die Notwendigkeit der Versöhnung könnte der ebenfalls eingeladene Konstantin Wecker unterstreichen, wenn er vor Rednern und Publikum den Burgfrieden im Angesicht der Bedrohung heiligster Güter durch die USA besingt.