Eine mobile Macht

Nach dem Irakkrieg will die Europäische Union den Aufbau einer gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik beschleunigen. von anton landgraf

Friedlich schipperten die Außenminister der Europäischen Union und der zehn Beitrittsstaaten auf der Luxusyacht »Alexander« am vergangenen Wochenende durch die griechische Ägäis. »Eine sehr positive Erfahrung« sei das Treffen gewesen, konstatierte der deutsche Außenminister Joseph Fischer bereits nach dem ersten Tag im blaukarierten Freizeithemd, die Stimmung sei trotz aller Differenzen ausgezeichnet.

Dabei hatten die Minister reichlich Sprengstoff an Bord. Schließlich ging es bei dem informellen Treffen um die Folgen des Irakkrieges und den Aufbau einer gemeinsamen Verteidigungspolitik.

So musste der griechische Gastgeber, Außenminister Georgios Papandreou, sein ganzes rhetorisches Geschick bemühen, um die Teilnehmer von der historischen Mission ihrer Kreuzfahrt zu überzeugen. Der Irakkrieg sei »ein Wendepunkt« für Europa gewesen, erklärte er, nun müsse die Union »erwachsen« werden und »in eine neue Ära« eintreten. Als Reifezeugnis benötige sie eine eigene »Europäische Sicherheitsdoktrin«, die bereits auf dem EU-Gipfel Ende Juni in Athen vorgestellt werden soll. Dann könnte die Union erstmals einen Gegenentwurf zur »Nationalen Sicherheitsstrategie« der USA präsentieren.

Das geostrategische Konzept soll definieren, wie die Europäer auf den Terrorismus und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen reagieren wollen, und die Frage beantworten, unter welchen Umständen die Mitgliedstaaten »Gewalt als letztes Mittel« akzeptieren.

Von dem Wunsch, sich endlich von den USA zu emanzipieren, waren auch die Teilnehmer des »Pralinengipfels« beseelt, der bereits zehn Tage zuvor in Brüssel stattgefunden hatte. Die Regierungschefs von Luxemburg, Belgien, Deutschland und Frankreich hatten dort vorgeschlagen, eine europäische Verteidigungsunion zu gründen. Bis zum Sommer des kommenden Jahres wollen sie ein europäisches Militärhauptquartier und ein gemeinsames strategisches Lufttransportkommando einrichten, um künftig auch »anspruchvollste« militärische Aufgaben im Alleingang meistern zu können. Eine »Europäische Agentur für Entwicklung und Beschaffung« soll zudem die Rüstungspolitik der EU-Staaten koordinieren.

Niemand wolle neben der Nato eigene Militärstrukturen aufbauen, erklärte Bundeskanzler Gerhard Schröder nach dem Treffen beschwichtigend. Einen offenen Bruch mit der Nato will bislang kein Teilnehmer riskieren. Etwa zehn Jahre, so schätzen Experten, wird die EU noch für den Aufbau einer weltweit einsatzfähigen Armee benötigen. So lange ist die Union noch, wie ihr aktueller Einsatz in Mazedonien zeigt, im Ernstfall auf US-amerikanische Kapazitäten angewiesen.

Folglich kaschieren Schröder und der französische Staatspräsident Jacques Chirac ihre Pläne gerne als »europäischen Pfeiler« der Nato. Doch wenn der steht, so das Kalkül, ist die Brücke über den Atlantik überflüssig. Europa müsse »endlich ernst machen mit dem Satz, dass wir uns um unsere eigene Sicherheit kümmern, das haben die Amerikaner jahrzehntelang angemahnt«, tönte auch Luxemburgs Ministerpräsident Jean-Claude Juncker in Brüssel. »Jetzt können sie es kriegen.«

Diese Ankündigung löst vor allem beim britischen Premierminister Tony Blair und in den osteuropäischen Beitrittsländern Angst und Schrecken aus. Die französische Vision einer bipolaren Welt würde die »Rivalität des Kalten Krieges in einer anderen Form« wiedererstehen lassen, hatte Blair, der das Treffen boykottierte, erst in der vorletzten Woche erklärt.

Es sei eine Tatsache, dass eine »multipolare Welt« im Entstehen sei, sagte daraufhin Chirac. Niemand könne diese Entwicklung verhindern, weder Bush noch Blair. Dennoch müssen sich die Regierungen in Paris und Berlin beeilen. Die Allianz des Irakkriegs könnte sich verfestigen und die Union auf Dauer spalten. Gelingt es jetzt, die Initiative für eine Euro-Armee voranzutreiben, könnte sie eine Sogwirkung entfalten, der sich kein Mitgliedsland dauerhaft entziehen kann.

Die Vorgehensweise der Vierergruppe entspricht in vielen Zügen dem Kerneuropakonzept, das zuerst vom damaligen CDU-Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Schäuble in den neunziger Jahren entwickelt und später von Außenminister Joseph Fischer übernommen wurde. Demnach sollen Deutschland und Frankreich in den wichtigsten Fragen die Rolle einer Avantgarde übernehmen. »Bei der Einführung des Euro und beim Schengen-Abkommen war das ähnlich«, meint dazu Hans-Georg Ehrhardt vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Uni Hamburg im Spiegel. An dem Aufbau der gemeinsamen Währungsunion Ende der achtziger Jahre beteiligten sich anfangs auch nur Belgien, die Niederlande und Luxemburg.

Doch für eine moderne Kriegsführung, wie sie die USA im Irak vorexerziert haben, sind bislang nur wenige europäische Einheiten ausgerüstet. Insbesondere die Bundeswehr hat große Schwierigkeiten, sich von ihrem traditionellen Konzept aus den Zeiten des Kalten Krieges auf die hochmobile High-Tech-Strategie umzustellen.

Eine weltweit einsatzfähige EU-Armee wird daher ohne enormen finanziellen Aufwand nicht zu haben sein. Nach Meinung von Verteidigungsminister Peter Struck ist spätestens ab 2007 eine deutliche Erhöhung des Wehretats unausweichlich. In der Abschlusserklärung von Brüssel sollte sogar ursprünglich die Forderung aufgenommen werden, die Verteidigungsausgaben im Laufe der nächsten zehn Jahre zu verdoppeln. Vor allem Bundeskanzler Schröder lehnte dankend ab. Wegen des Streits um seine sozialpolitische Agenda 2010 kann er solche Ansinnen derzeit nicht gebrauchen.

Neben der konkreten militärischen Planung drängen Paris und Berlin auch darauf, eine gemeinsame Verteidigungspolitik in der Verfassung zu verankern. Konventspräsident Valéry Giscard d’Estaing hat in den vergangenen Wochen entsprechende Vorschläge unterbreitet. Auch bei ihrem Treffen in Brüssel schlugen die vier Regierungschefs vor, eine »generelle Solidaritätsklausel« aufzunehmen.

Mit einer solchen verfassungsrechtlichen Grundlage wäre es keinem EU-Mitglied mehr möglich, in Verteidigungsfragen noch auf die nationale Souveränität zu pochen. Für alle, die dann nicht mehr mitspielen wollen, ist aber ein Ausweg vorgesehen. In die Verfassung soll eine Ausstiegsklausel aufgenommen werden. Wer nicht will, kann wieder gehen.

Alle anderen könnten sich an den frommen Wünschen erfreuen, die derzeit den Aufbau einer europäischen Militärmacht begleiten. So pries Uno-Generalsekretär Kofi Annan auf dem EU-Gipfel in Athen Europa als »Hort der Hoffnung für Frieden und Versöhnung auf der ganzen Welt«. Der deutsche Historiker Hans Mommsen sieht die Europäer gar als »Hüter der völkerrechtlichen Normen« und als »Vorkämpfer internationaler Solidarität«.

Selbst einige Linke hoffen, dass eine militarisierte Union den Schurken in Washington endlich in die Schranken weisen kann. So bedauert Jürgen Elsässer, dass in Brüssel keine konkreteren Beschlüsse, etwa zum Bau von Flugzeugträgern, fielen. Die vier hätten wenigstens dafür plädieren können, dass der EU-Ministerrat künftig mit einer qualifizierten Mehrheit über Kriegseinsätze entscheiden kann und nicht mehr vom Vetorecht einzelner Staaten behindert wird.

Im Elysée-Palast gibt es sicher bereits Überlegungen, wo die Eurokrieger bald selbstlos Frieden schaffen könnten. Mehr als 30 Mal hat die französische Armee in den vergangenen Jahrzehnten in Afrika interventiert. Als Begründung diente meist der »Hilferuf« befreundeter Regierungen aus ehemaligen Kolonien. Nur einmal konnte sich Paris dabei auf ein UN-Mandat berufen – als französische Fallschirmjäger nach dem Völkermord in Ruanda die Hutu-Milizen vor der Rache ihrer Opfer schützten.