Land ohne Opposition

Oberflächlich betrachtet, wurde Deutschland unter der rot-grünen Regierung liberaler. Doch die zivilgesellschaftlichen Strukturen passen zu dem nun geplanten Sozialabbau. von felix klopotek

Eine gängige Kritik an der rot-grünen Regierung lautet, jahrelang habe sie sich mit Nebensächlichem beschäftigt, habe die Homo-Ehe und das Dosenpfand eingeführt, eine Bundesstiftung für Kultur ins Leben gerufen, die Agrarwende propagiert und den Atomausstieg beschlossen. Sie habe sich außenpolitisch profiliert, dürfe sogar Kriege führen und beinahe ungestraft den USA die Stirn bieten. Aber das wirklich Wichtige habe sie immer vor sich her geschoben: den Umbau des Sozialstaates.

Jahrelang sei es Deutschland gut gegangen, jahrelang habe die Regierung den Sozialumbau nur angekündigt. Jetzt, da eine Rezession drohe und sowieso alle Angst um ihren Job hätten, solle der Umbau kommen. Zu spät! Denn jetzt sei die Zeit der Gewerkschaften, der Besitzstandswahrer und Sozialneider. Die Zeit der Visionen und kühnen Entwürfe sei vorbei. Schröder habe seine Chance verpasst, es sei denn, er setze das Skalpell noch tiefer an, riskiere wirklich etwas und gehe rücksichtslos vor. Dann, ja dann könnte der Patient noch gerettet werden!

Das ist die Botschaft der rechten Opposition in Deutschland. Eigentlich mag sie den Gerhard, sie traut ihm richtig viel zu, ist aber enttäuscht, weil er sich verzettelt hat und sich vor den Gewerkschaften duckt. Die linke Opposition denkt fast genauso, auch sie macht sich die Sorgen des Kanzlers, auch sie glaubt, dass der Sozialumbau unvermeidlich ist und jetzt kommen muss. Sie ärgert sich nur, dass der Kanzler dem liberalen, zivilgesellschaftlichen Kurs der ersten Legislaturperiode nicht treu bleibt. Für sie lautet die Logik: Wenn schon Homo-Ehe, dann auch Existenzgeld. Ihre Parole heißt folglich: »Ja zu Reformen – Nein zum Sozialabbau!«

Dass von der Opposition nicht viel zu erwarten ist, weil sie das, was die Regierung tut, auch tun würde, nur eben »besser«, ist offensichtlich. Das Interessante aber ist, dass es niemanden gibt, der die schier grenzenlose Hegemonie des bürgerlichen Lagers ernsthaft in Frage stellt. Es gibt keinen charismatischen Linkspopulisten, auch wenn Oskar Lafontaine sich wohl für einen hält, und keine entschieden auftretende Gewerkschaft. Schon am 2. Mai konnte man in der Süddeutschen Zeitung lesen: »Den Reformstreit in seiner Partei wird der Kanzler gewinnen – doch dann fängt die Arbeit erst an«.

Selbst nach bürgerlichen Maßstäben wird Deutschland also zu einer »Gesellschaft ohne Opposition«, wie Herbert Marcuse es einmal genannt hat. Es geht nur noch um die Schwierigkeitsgrade der zu bewältigenden Aufgabe. Die Süddeutsche meint: »Die Debatte um soziale Gerechtigkeit in einer langsam vergreisenden Gesellschaft und die Rolle des Staates in einer globalisierten Welt hat erst begonnen.« Schröder würde lediglich einwenden: Aber wir sind doch schon längst dabei.

Wer diesen Zustand ausnahmsweise nicht mit dem fiesen Nationalcharakter und der autoritären Tradition Deutschlands erklären will, dem bleibt nur die politische Ökonomie. Karl Marx beschreibt im »Kapital« die bürgerliche Gesellschaft an ihrer Oberfläche als »ein wahres Eden der angeborenen Menschenrechte. Was hier allein herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham. (…) Denn Käufer und Verkäufer einer Ware, z.B. der Arbeitskraft, sind nur durch ihren freien Willen bestimmt. Sie kontrahieren als freie, rechtlich ebenbürtige Personen.«

Die rot-grüne Regierung hat in den letzten Jahren nichts anderes getan, als dieses Eden auszuschmücken. An ihrer Oberfläche wurde die Gesellschaft freier, politisch korrekter, ökologischer und »nachhaltiger«. Selbst Kriege werden um der Menschenrechte willen geführt. Was also der bürgerlichen Presse als schlappes Vorspiel gilt und den Zivilgesellschaftern als verheißungsvoller Auftakt eines wirklichen Reformprojektes erscheint, war und ist nichts anderes als eine Neugestaltung der Zirkulationssphäre. Überspitzt gesagt: Diese Neugestaltung schuf und stärkte als Ausdruck einer tendenziell aufgeklärten, lebensweltlich orientierten Politik die Strukturen, zu denen der anstehende Sozialabbau passt wie die Faust aufs Auge.

Denn die Reformen huldigten dem mündigen, eigenverantwortlichen und experimentierfreudigen Bürger. Sie stärkten die Konsumentensouveränität (Kauft besser nur Ökoprodukte und informiert euch über Gentech!) und dienten dem Gemeinschaftsfrieden (Dein ausländischer Nachbar ist schon okay, denn er ist ein indischer IT-Spezialist!). Wenn der Sozialabbau kommt, dann nicht in der Form der offen autoritären Armutsverwaltung und Zwangsarbeit; dieser Sozialabbau wird »nur« als beständige Drohung, als Hintergrundgeräusch existieren. Im Vordergrund wird das Arbeitsamt als Creative Center stehen, das deine Experimentierfreude stimuliert und dir hilft, deine Persönlichkeit weiter zu entwickeln.

Mittelfristig stellt sich die Liberalisierung Deutschlands unter der rot-grünen Koalition als ordinär konterrevolutionär heraus. Die tatsächliche oder vermeintliche politische Liberalisierung stärkt die Ideologie des Sachzwangs: mehr Bürgerrechte als Kompensation für weniger ökonomische Sicherheit. Politisch können wir euch die Menschenrechte garantieren, ökonomisch aber leider nur die Ich-AG.

Die New Economy, das wirtschaftspolitische Paradigma der ersten rot-grünen Legislaturperiode, ist bereits Geschichte, die flexibilisierten Subjekte, die sie hervorgebracht hat, sind es nicht. Natürlich sind auch die Kinder der New Economy in der Lage, sich zusammenzuschließen, um bestimmte Ziele zu erreichen, in irgendeiner Form wird es also auch zukünftig Gewerkschaften geben. Aber sie repräsentieren keine Arbeiterkultur mehr, wie schäbig die auch sein mochte, sondern werden zu einer Serviceagentur, die bei Arbeitsrechtsproblemen behilflich ist.

Das ist es, was Marx vor 140 Jahren mit »Bentham« meinte: »Die einzige Macht, die sie (Käufer und Verkäufer einer Ware, F.K.) zusammen und in ein Verhältnis bringt, ist die ihres Eigennutzes, ihres Sondervorteils, ihrer Privatinteressen. Und eben weil so jeder nur für sich und keiner für den anderen kehrt, vollbringen alle, infolge einer prästabilierten Harmonie der Dinge (…), nur das Werk ihres wechselseitigen Vorteils, des Gemeinnutzens, des Gesamtinteresses.« Marx nannte Jeremy Bentham, den britischen Theoretiker des Utilitarismus, an anderer Stelle »ein Genie in der bürgerlichen Dummheit«. Die heutigen Genies in der bürgerlichen Dummheit sind die Apologeten der Zivilgesellschaft.

Deutschland, so könnte man sagen, wird deshalb bald völlig ohne Opposition sein, weil ihre Forderungen erfüllt sind, inklusive der Kriegsverweigerung. Vorbei ist es mit der bürgerlichen Erfindung des »Pluralismus«. Die Medien übertrumpfen sich gegenseitig in ihrem penetranten Alle-müssen-anpacken-Patriotismus. Es geht längst nicht mehr um Widerspruch, sondern um die Bedingungen des Mitmachens. Selten vollzog sich die Brutalisierung der Gesellschaft, ihr schärfer werdender Autoritarismus so liberal. Dieser Prozess wird auch in Zukunft als Mündigkeit verkauft werden und tatsächlich eine bestimmte, verwertungskonforme Form der Mündigkeit produzieren.

Und unter der Oberfläche arbeitet weiter die Höllenmaschine des Kapitals, wie Marx sie beschrieb: »Der ehemalige Geldbesitzer schreitet voran als Kapitalist, der Arbeitskraftbesitzer folgt ihm nach als sein Arbeiter; der eine bedeutungsvoll schmunzelnd und geschäftseifrig, der andre scheu, widerstrebsam, wie jemand, der seine eigne Haut zu Markt getragen und nun nichts andres zu erwarten hat als die – Gerberei.«