Der sehr nahe Osten

Der europäische Totalitarismus ist nicht am Ende. Er fand in al-Qaida seine Fortsetzung. Meint Paul Berman und findet dafür auch Argumente. von tobias rapp, new york

Terror and Liberalism« ist ein Buch mit einer Vorgeschichte, die man eigentlich gar nicht mehr hören mag, zu oft ist sie schon bemüht worden, um Büchern, die sich mit der Welt nach dem 11. September beschäftigen, die nötige Legimität zu verschaffen.

Als die Türme des World Trade Centers zusammenstürzten, stand Paul Berman auf dem Dach über seiner Wohnung in Brooklyn, beobachtete das schreckliche Spektakel auf der anderen Seite des Flusses und ihm wurde klar, dass die Welt einer tödlichen Bedrohung ausgesetzt ist: dem radikalen Islamismus.

In diesem Fall hat die Geschichte aber eine Pointe. Anstatt in den Chor all derjenigen einzustimmen, die nach den Anschlägen an ihren Schreibtisch eilten und verkündeten, nun sei nichts mehr wie es einmal war, stieg Paul Berman ein paar Stockwerke weiter nach unten, begab sich auf die Straße und begann in die Buchläden seiner Nachbarschaft zu gehen.

Berman lebt in Boerum Hill, einer der Gegenden von Brooklyn, in der viele arabische Einwanderer wohnen. Die al-Farooq-Moschee, von der aus ein jemenitischer Geistlicher 20 Millionen Dollar in das al-Qaida-Finanznetzwerk einspeiste, ist gleich um die Ecke. Genau wie eine ganze Reihe arabischer Buchläden. Er wurde fündig: Er stieß auf das Werk von Sayid Qutb, einem im Westen weithin unbekannten islamischen Gelehrten und Literaturwissenschaftler, der als al-Qaida-Vordenker gilt – und zwar nicht nur auf »Meilensteine«, das ob seines Manifestcharakters bekannteste Buch Qutbs. Berman entdeckte auch die ersten Bände der englischen Übersetzung von »Im Schatten des Koran«, Qutbs Hauptwerk, einer 30bändigen Interpretation des Koran.

Er begann zu lesen und machte eine weitere Entdeckung, die er im New York Times Magazine so beschreiben sollte: »›Im Schatten des Koran‹ ist in seiner Art ein Meisterwerk. Al-Qaida und ihre Schwesterorganisationen sind nicht nur beliebt, wohlhabend und haben überall auf der Welt Verbindungen. Diese Gruppen sind außerdem auf einem Set von Ideen begründet. Viele dieser Ideen mögen zwar pathologisch sein, aber das ist eine alte Geschichte in der Politik der Moderne. Doch selbst wenn: diese Ideen sind mächtig.« Und nicht nur das. Berman hatte erwartet, die Lektüre würde ihn schockieren, würde ihn in gedankliche Regionen führen, die befremdlich und unverständlich sein würden. Doch nichts davon. Qutbs Gedanken kamen Berman merkwürdig bekannt vor. Sie erinnerten ihn an Ideen, die weite Teile der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts dominiert hatten. So entstand »Terror and Liberalism«.

Paul Berman ist einer der bekanntesten liberalen Intellektuellen der USA und einer der wichtigsten Vertreter einer Linken, die man anti-kommunistisch nennen und als deren Referenzpunkte man die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und Abraham Lincolns Rede von Gettysburg angeben könnte – nicht die Französische oder gar die Oktoberrevolution. »Terror and Liberalism« ist sein Versuch, der Welt nach dem 11. September Sinn abzugewinnen. In den USA hat es seit seinem Erscheinen heftige Reaktionen ausgelöst, die New York Times ließ es gleich zweimal besprechen, und in der linken Presse, allen voran in der Nation, wurde es überwiegend verrissen.

Allerdings war es eine Kontroverse, der eine selektive Lektüre zu Grunde lag, die auch mit dem Buch, aber mehr noch mit dessen Erscheinungsdatum während des Irakkriegs zusammenhing, und sich im Wesentlichen an Bermans Position zu eben diesem Krieg festmachte, den er in der Hoffnung auf so etwas wie einen humanitären Kollateralschaden begrüßte, auch wenn er aus seiner Abneigung gegen die Bush-Administration nie ein Hehl machte. Tatsächlich zieht sich ein militanter Antitotalitarismus durch Bermans Buch, das sich manchmal so liest, als würden wir in den Dreißigern oder Fünfzigern leben, und größere Teile der westlichen Öffentlichkeit seien von Sympathien für alle möglichen Arten totalitären Gedankenguts durchdrungen. Doch man muss Bermans Position zum Irakkrieg nicht teilen, um ihm durch weite Teile seines Buchs folgen zu können.

Der Kern von »Terror and Liberalism« ist die These, dass der Totalitarismus mit seinem Tod in Europa nicht starb, sondern Fortsetzung in den totalitären Bewegungen des Nahen und Mittleren Ostens fand, im radikalen Islamismus und im radikalen Panarabismus der Ba’ath-Partei. Tatsächlich liegen die Parallelen auf der Hand: der Hass auf die liberale Zivilisation, der Todeskult, der Antisemitismus, die Zurückweisung der kulturellen Moderne bei gleichzeitiger Umarmung der technischen Moderne, der Glaube, ein auserwähltes Volk zu sein. Für Berman operieren alle totalitären Bewegungen von dem gleichen babylonischen Ur-Mythos aus: dem Glauben daran, als das Volk Gottes in einem groß angelegten Zangenangriff durch teuflische Kräfte von außen und dekadente Individuen von innen bedroht zu sein. Eine Bedrohung, aus deren Niederlage in einem blutigen Krieg dann die neue Gesellschaft hervorgehen werde.

Bermans Kronzeuge für seine These, im radikalen Islam nichts weiter zu sehen als eine andere Spielart des Totalitarismus, ist Sayid Qutb. Ein durch und durch moderner Charakter, geboren 1906 in Kairo, ein Kind der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ein umfassend gebildeter islamischer Literaturwissenschaftler, der in den USA studiert, kenntnisreich über Existenzialismus zu schreiben weiß, den für Berman von Georg Lukács wenig mehr unterscheidet, als dass er den Koran ins Zentrum seines Werks stellt und nicht die Schriften von Karl Marx. Ein Gelehrter, der aus seiner ägyptischen Gefängnishaft gleichwohl ein gigantisches totalitäres Gedankengebäude in die Welt entlässt, und seine Anleitung zur Tugend des Märtyrerdaseins so ernst nimmt, dass er die Möglichkeit zur Flucht ausschlägt, um 1966 von Nasser hingerichtet zu werden.

Wenn Bermans Recherche also mit dem simplen Gang zum arabischen Buchhändler an der Ecke begann, so ist dies ein Gestus, der sich in der Argumentation des Buches fortsetzt. Hier wird keine fremde Welt besichtigt: Der größte Teil dessen, was es hier zu sehen gibt, sollte Europäern einigermaßen bekannt vorkommen. Die Gründerväter des Ba’athismus ließen sich von deutscher politischer Philosophie inspirieren, bei den ägyptischen Muslimbrüdern stand Mussolini Pate. So antiwestlich sich die totalitären Bewegungen geben, ihre Wurzeln liegen im Westen selbst. Sie sind genauso antiwestlich, wie es die totalitären Bewegungen Europas auch waren – es ist nicht zuletzt der Hass auf die Werte des Liberalismus, der sie eint.

Jeden Exotismus, jeden Orientalismus sucht man bei Berman vergebens. »Terror and Liberalism« beschreibt Europa und den Nahen und Mittleren Osten als einen Raum, als eine Welt, deren Bewohner wesentlich mehr verbindet als sie trennt. Und es sind ja nicht nur westliche Ideen, die ihren Weg in den arabischen Raum fanden – seit langer Zeit sind europäische Metropolen wie London und Paris die intellektuellen Zentren islamischen Denkens.

Aus dieser Perspektive macht auch der Furor Sinn, mit dem Berman die westliche Linke dafür geißelt, diesen Parallelen zu wenig Aufmerksamkeit zu schenken und so ihre Fähigkeit verloren zu haben, den Faschismus bekämpfen zu können. Man muss gar kein Unterstützer des Irakkriegs gewesen sein, um diese Unfähigkeit in einer Antikriegsbewegung wiederzufinden, die sich nach wie vor schwer damit tut, den Sieg der Amerikaner anders wahrzunehmen denn als eigene Niederlage.

Paul Berman: Terror and Liberalism. W. W. Norton, New York 2003, 214 S. Zirka 21 Euro