Der unmögliche Tod

Carlos Reygadas’ außergewöhnlicher Debütfilm »Japón« zeigt einen Selbstmörder, von dem das Leben nicht ablässt. von dominik kamalzadeh

Ein Mann hat sich vorgenommen zu sterben. Der Ort, den er für seine Tat gewählt hat, liegt im Norden des Landes, eine lange Autofahrt entfernt von der Metropole Mexiko City. Als Kind ist er einmal dort gewesen, an dem gewaltigen Sierra Tarahumara Canyon, der die Landschaft wie eine tiefe Narbe durchzieht. Warum der Mann gerade diesen Landstrich aufsucht, wird nie konkret geklärt. Doch das Schauspiel der Natur scheint seinem Zustand zu entsprechen, dem Riss in seinem Inneren.

»Japón« ist der Debütfilm des Mexikaners Carlos Reygadas, der diese Geschichte eines Lebensmüden erzählt. Mit den jüngeren Erfolgen des neuen mexikanischen Kinos, mit »Amores Perros« oder »Y tu mamá también«, hat er gar nichts gemein. Mit dem japanischen Kino allenfalls eine gewisse Knappheit des Dialogs. Vielleicht kann man den Titel so verstehen: Auf der Landkarte liegt Japan ganz weit westlich von Mexiko, Richtung Osten erstreckt sich zwischen den beiden Ländern der Pazifik. Die Insel bleibt immer fern.

Wie blickt man auf die Welt, wenn man genug von ihr hat, und welche Bilder wirft die Welt auf so jemanden zurück? Es sind solche Fragen, die »Japón« bewegen und ihn zuallererst zu einem Film über das Wahrnehmen von Raum werden lassen. Er besteht zu einem nicht unbeträchtlichen Teil aus Landschaftsbildern, die auf dem nur selten verwendeten 16mm-Super-Cinemascope gedreht wurden und imposante Panoramen ergeben oder in Nahaufnahmen ihre Konturen verlieren. Anders als der Selbstmörder in Abbas Kiarostamis »Der Geschmack der Kirschen«, der mit dem Auto durchs Land fährt und sich dabei immer wieder mit seinen Beifahrern in philosophische Gespräche verstrickt, geht der Protagonist in »Japón« durch die Welt. Wie seine Vergangenheit aussieht, lässt sich nur vermuten. Er hört klassische Musik und interessiert sich für Malerei – vielleicht ist oder war er Künstler. Er träumt von einer Frau, die dem Meer entsteigt. Er spricht immer wieder davon, mit gewissen Dingen abschließen zu wollen, aber es gelingt ihm nicht, die Augen vor der Welt zu verschließen.

Reygadas geht es nicht um Melodramatik, sondern allenfalls um das innere Drama seiner Figur. In einem kleinen Bergdorf am Rande des Canyons bezieht der Mann ein Zimmer im ärmlichen Haus einer älteren Frau, das abseits der Gemeinde liegt. Von dort startet er humpelnd und auf einen Stock gestützt seine ausgedehnten Wanderungen. Das Ziel dieser Ausflüge ist die umliegende Natur, kein konkreter Ort. Die Kamera begleitet ihn und nimmt bisweilen seine Sicht ein. Unruhige Travellings tasten das Material ab, untersuchen die Stofflichkeit des Lebens; aus dem Off ist der Atem des Mannes zu hören; dann unterlegt Reygadas, der sehr pointiert mit der Tonebene umgeht, die Bilder wieder mit Naturgeräuschen oder Kompositionen von Bach oder Arvo Pärt.

Die asketischen Unternehmungen des Mannes sind der Versuch, sich von der Welt zu lösen. Sein Todestrieb prallt an der Natur jedoch ab, die raue Wirklichkeit des Canyons scheint sich gegen seine Pläne zu wehren, sie wirft ihm gleichsam ein anderes Bild zurück: das der nackten Existenz.

Nur aus der Distanz betrachtet wirkt die Natur erhaben. Wie in David Lynchs »Blue Velvet«, wo sich im Close-up einer Wiese die Insekten tummeln, ist auch in »Japón« der Kampf um Leben und Tod in einem durchaus faktischen, ja biologischen Sinn besonders präsent: Einem Vogel wird gleich zu Beginn der Kopf abgedreht, der Schnabel schnappt noch ein paar Mal nach Luft; ein Schwein wird geschlachtet, von schrecklichem Quieken begleitet. Später sieht man, wie zwei Pferde kopulieren.

In einer besonders schönen Szene marschieren minutenlang Schüler am Protagonisten vorbei; die Abfolge ihrer unterschiedlichen Gesichter wird dabei zu einem Bild für den Reichtum des Lebens. Wenn der Mann, am Steilhang des Canyons angekommen, sich nicht überwinden kann zu springen, wirkt das wie ein Echo auf dieses Bild. So sinkt er stattdessen neben dem Kadaver eines Pferdes nieder, aus dessen Bauch die Eingeweide hervorquellen. Es ist die einzige Stelle des Films, an der sich die Kamera von der Welt zu lösen scheint, wenn sie im Helikopterflug über den Abhang des Canyons zu kreisen beginnt und dabei den Menschen in seiner Umgebung aufhebt.

Ganz gegen seine Absichten entwickelt der Mann zu seiner Gastgeberin ein freundschaftliches Verhältnis. Anfangs weist er sie noch ab, doch schließlich geht er doch auf sie zu, bis sie eines Tages sogar gemeinsam Marihuana rauchen. Die Annäherung zwischen diesen beiden Charakteren – Alejandro Ferretis und Magdalena Flores sind wie alle anderen Darsteller des Films Laien – gehört zu den eindrucksvollsten Aspekten des Films. Sie wechseln nicht viele Worte miteinander, und Ascen stellt keine Fragen. Ihr Name leitet sich von Ascension (dt. Himmelfahrt) her, und auf ihrem faltigen Gesicht zeigen sich die Spuren eines entbehrungsreichen Daseins.

Als sie von seinem Vorhaben erfährt, erwidert sie nur, dass man Dinge, die nicht mehr funktionieren, doch reparieren solle. Es ist, als ob sie erkennen könnte, dass das Leben und das Begehren an ihm festhalten. Sah man ihn bereits zu Beginn im Film onanieren, so bittet er nun Ascen darum, mit ihm zu schlafen. Der Akt soll kathartisch wirken, die Sexszene widerspiegelt die Natur des Menschen. Am Ende brechen die unterdrückten Affekte des Mannes hervor, an die Brust der alten Frau geschmiegt wird er das erste Mal weinen.

Das Verhältnis der beiden wird schließlich noch durch ein anderes Ereignis enger. Ascens Neffe will den Anbau ihres Hauses abtragen. Doch ohne den würde das Gebäude das nächste Unwetter nicht überstehen. Während sich die alte Frau diesem Plan beinahe willenlos fügt, lehnt sich ihr Gast dagegen auf. Sein Engagement ist ein deutliches Zeichen dafür, dass er am Leben wieder teilhat – auch wenn er letztlich den sinnlosen Akt nicht verhindern kann. In einer unverhohlen dokumentarischen Szene sitzen die Arbeiter an den Resten des Hauses beisammen und raunen nebenbei darüber, dass »die Leute vom Film« ihnen zu wenig zum Trinken geben. Fast könnte man meinen, dass die Wirklichkeit nun auch den Film eingeholt hat. Doch eine spektakuläre Fahrt belehrt uns eines Besseren: Sie führt zunächst an Schienen entlang, um zögerlich in langsame Kreisbewegungen überzugehen. Man nimmt nur Bruchstücke wahr – Steinklumpen, ein paar Kleidungsfetzen, womöglich Tote, die verstreut am Rande der Gleise liegen. »Japón« endet mit diesem Bild eines Unglücks als Ellipse, in welche ein Mythos eingeschrieben ist: Jemand ist stellvertretend für einen anderen gestorben.

»Japón«, (Mexiko 2001). Regie: Carlos Reygadas. Start: 5. Juni