Die Türken kommen

In der Türkei wird gut gekickt, gesungen, und man sieht gut aus. Das lenkt aber von der ökonomischen und politischen Krise ab. von deniz yücel

Mitte der neunziger Jahre blätterte ich in einem Geschichtsbuch fürs türkische Gymnasium. Es gehörte meinem Cousin Volkan aus Izmir, der gerade das Thema Renaissance büffelte. Auswendig lernen musste er etwa das: »Mit der Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453 begann die Renaissance.« Ein bisschen monokausal, aber nicht ganz falsch, könnte man sagen, wäre da nicht der kleine Umstand vergessen worden, dass die Renaissance nicht in Konstantinopel begann, das fortan Stambul hieß, sondern in den italienischen Stadtstaaten. Diese Unterschlagung wog jedoch nichts im Vergleich zu dem, was eine Seite weiter unter der Überschrift »Neuerungen der Renaissance« zu lesen war: »Der Deutsche Gutenberg und die uigurischen Türken erfanden den Buchdruck.«

Im selben Jahr, 1997, rief das US-amerikanische Magazin Time zu einer Wahl der »hundert wichtigsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts« auf. Das Außenministerium in Ankara erkannte die Chance, die eine solche Publikumsumfrage mit sich brachte und führte eine Kampagne durch: »Auch deine Stimme für den Vater!« Natürlich sollten die Landsleute nicht ihre leiblichen Väter zur bedeutendsten Persönlichkeit des ausgehenden Jahrhunderts küren. Gemeint war der Staatsgründer Mustafa Kemal, der sich vom Parlament den Nachnamen Atatürk (»Vater der Türken«) verpassen ließ und liebevoll nur »Vater« genannt wird.

Die türkischen Massenmedien waren begeistert. Die Presse druckte vorformulierte Postkarten und Faxe, wehrlose Schüler mussten zur Stimmabgabe antreten, das Fernsehen berichtete stolz über den Fortgang der Abstimmung. Nicht wenig verblüfft dürfte man in der Redaktion der Time gewesen sein, dass plötzlich säckeweise Postkarten mit Stimmen für den »Vater« eintrudelten und ihr harmloses Voting zu einer Staatsangelegenheit geworden war.

So war das früher, als die Türken kaum eine Gelegenheit versäumten, um den Rest der Welt von ihrer Größe zu überzeugen, und dabei doch nur ihren kollektiven Minderwertigkeitskomplex demonstrierten, der sich auf unsympathische Weise mit einem kollektiven Größenwahn paarte.

Vielleicht können sie künftig auf derlei peinliche Inszenierungen verzichten. »Dieses Jahr ist ein türkisches«, schrieb die französische Tageszeitung Le Parisien in der vergangenen Woche. Aus türkischer Perspektive betrachtet ein treffendes Urteil: Zuerst gelang es der türkischen Fußballnationalmannschaft bei ihrer ersten Teilnahme an einer Weltmeisterschaft nach bald 50 Jahren einen respektablen dritten Platz zu erobern. Die Wahl zur »Miss World«, die Ende 2002 wegen der pogromartigen Ausschreitungen nigerianischer Islamisten nach London verlegt werden musste, gewann Azra Akin; als einzige Türkin vor ihr hatte nur Keriman Halis einen ähnlichen Wettbewerb gewinnen können, 1932 war das. In der vergangenen Woche folgten in Cannes der Große Preis der Jury für Nuri Bilge Ceylans Film »Uzak« (»Weit«) und natürlich Sertab Erener, die mit ihrem Orientaldancestück »Everyway that I can« den Grand Prix d’Eurovision gewann.

Nicht dass türkische Künstler in der Vergangenheit nichts Wichtiges produziert hätten. Nur galt lange die Regel: Im Ausland gefeiert, in der Türkei verboten und verfolgt. Lange Zeit ließ sich der literarische Rang türkischer Schriftsteller an der Zahl der Jahre ermessen, die sie in türkischen Knästen verbracht hatten. So notierte Nazim Hikmet, der einen wichtigen türkischen Beitrag zur Weltliteratur geleistet hatte, kurz vor seinem Tod im Jahr 1963 im Moskauer Exil verbittert: »Meine Bücher erscheinen in 30 bis 40 Sprachen, nur in meiner Türkei, in meiner Muttersprache sind sie verboten.« Genauso erging es dem türkisch-kurdischen Regisseur Yilmaz Güney. Sein Film »Yol« (»Der Weg«) wurde 1982 in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet, konnte in der Türkei aber er erst 1999 gezeigt werden, 15 Jahre nach dem Tod des Regisseurs.

Jedoch blieben die internationalen Erfolge eines Hikmet oder Güney oder des Malers Abidin Dino auf linke oder bildungsbürgerliche Kreise begrenzt. Größere Bekanntheit gelang erst der türkischen Popkultur der neunziger Jahre. Den Anfang machte Sezen Aksu, die Königin der Popmüzik, 1992 mit ihrem Hit »Hadi Bakalim«. Sie war es auch, die Tarkan zum Durchbruch verhalf, dessen berühmter Knutschsong »Simarik« stammt aus ihrer Feder. Eine Reihe anderer Musiker, die inzwischen selbst Stars sind, fingen bei Sezen Aksu als Backgroundsängerinnen und -sänger an, darunter Askin Nur Yengi oder Levent Yüksel. Und Sertab Erener, die Siegerin von Riga.

Natürlich ist Tarkans Dance-Pop etwas anderes als die vom sozialistischen Realismus inspirierte Lyrik eines Nazim Hikmet. Subversiv ist aber auch Tarkan. Sein berühmter Schmatzer, seine zuvor am Bosporus nie gehörten eindeutig erotischen Texte und sein sexy Hüftschwung haben die türkische Gesellschaft vielleicht nachhaltiger beeinflusst als die kommunistischen Künstler der fünfziger bis siebziger Jahre. Abgelöst hat der Türk-Pop den erzreaktionären Arabesk, der stets von unerreichbarer Liebe, vom Schmerz und immer wieder vom Tod handelte. Arabesk war die Begleitmusik für Väter, Brüder oder Ehemänner, die ihre Töchter, Schwestern oder Ehefrauen für eine selbstbestimmte Sexualität bestraften, also aus Gründen der »Familienehre« ermordeten. Nicht dass es diese abscheulichen Morde nicht mehr gäbe, aber mit Sezen Aksu lassen sich der Mord an der eigenen Tochter und fünfzehn Jahre Knast nicht verbrämen.

Der Türk-Pop hat es geschafft, die nationalistischen Vereinnahmungsversuche der Neunziger weitgehend abzuwehren. Sex, Spaß und Sinnlichkeit lautet seine universelle Botschaft. Das nicht zu unterschätzende gesellschaftliche Gegengewicht zum politischen Islam, der im vergangenen Jahrzehnt ebenfalls an Bedeutung gewonnen und in einer scheinbar gemäßigten Form zur Regierungsmacht gelangt ist, stellt die Popkultur. Die türkische Armee mag der bewaffnete Garant des Laizismus sein, und langfristig kann auch das Militär sich nicht vor gesellschaftlichen Einflüssen schützen, auch wenn es das durch permanente Säuberungen in den eigenen Reihen versucht. Aber die Bedeutung des Pop sollte man nicht unterschätzen. Der türkische Erfolg beim Grandprix wird als Beweis dafür gedeutet, dass die Türkei zu Europa gehört und dort mithalten kann, dass alle Reformbemühungen nicht vergebens sind und am Ende doch die Mitgliedschaft in der Europäischen Union winkt.

Im nationalen Freudentaumel ging der Jahresbericht von amnesty international unter. Die Organisation kommt zu dem Ergebnis, dass trotz einiger Gesetzesänderungen in der Türkei weiterhin systematisch gefoltert und die Meinungsfreiheit eingeschränkt wird.

Wenig Anlass für Jubel boten auch die Ratingagenturen Standard & Poor’s und Fitch, die zur selben Zeit die Kreditwürdigkeit des Landes zurückstuften. Auch der Internationale Währungsfonds mahnte, dass die Türkei trotz des beachtlichen Wirtschaftswachstums von 7,8 Prozent im vergangenen Jahr längst nicht ihre große Krise überwunden habe. Nur mittels der immensen Kredite des IWF konnte das Land vor dem Bankrott bewahrt werden. Emin Öztürk, Chefvolkswirt des Istanbuler Brokerhauses Bender Securities, meint dazu: »Der IWF misstraut der Türkei ohnehin, aber dieser Regierung misstraut er ganz besonders.«

Die hat seit letzter Woche weitere Sorgen: Die tief verwurzelte Aversion gegen die Kurden hatte genügt, dass die Militärs und die gemäßigt-islamistische Regierung sich im Irakkrieg zwar international isolierten, aber über alle Differenzen hinweg gemeinsam handelten. Nun ist der Konflikt zwischen beiden ausgebrochen, das Militär bemängelt offen die systematische Besetzung öffentlicher Ämter mit altgedienten islamistischen Kadern.

Im Zweifelsfall wiegen solche politischen und ökonomischen Probleme doch schwerer als ein Erfolg beim Schlagerwettwerb.