Große Schritte von Sharon

Die israelische Regierung hat den amerikanischen Friedensplan akzeptiert. Doch Ariel Sharons wirkliche Absichten sind unklarer denn je. von michael borgstede, tel aviv

An jenem denkwürdigen Tag, da das israelische Kabinett die amerikanische Road Map mit der kleinsten möglichen Mehrheit akzeptierte und Ministerpräsident Ariel Sharon öffentlich erklärte, die »Besatzung von 3,5 Millionen Palästinensern« sei »schrecklich« und müsse beendet werden, zeigten die meisten Palästinenser auf den Straßen von Tul Karem sich von dem israelischen Kabinettsbeschluss nicht übermäßig begeistert.

Der Gemüsehändler Moussa macht sich keine Illusionen: »Hat Sharon irgendetwas von den Siedlungen gesagt? Hat er von den 67er Grenzen gesprochen? Das wird doch genauso gehen wie mit dem Osloer Friedensprozess. Wir müssen uns mit Versprechungen zufrieden geben und Terroristen bekämpfen, während wir verhungern und die Israelis weiter unser Land stehlen.«

Aziz ist Biologielehrer und heute sowieso nicht gut auf die Israelis zu sprechen. Er züchtet in seiner Freizeit Vögel, und in der letzten Woche ist der gesamte Nachwuchs dieses Frühjahrs israelischem Tränengas zum Opfer gefallen. »Ich glaube, Sharon hat gewonnen«, sagt er. »Wir sind mittlerweile so erschöpft, dass wir uns mit allem zufrieden geben würden. Sogar mit einem zerstückelten Ministaat unter israelischer Kontrolle.«

Nur Iman hat große Erwartungen an den beginnenden Friedensprozess. Sie ist sieben Jahre alt und hofft, dass ihr Vater unter den wenigen Häftlingen sein wird, die Israel als Geste des guten Willens aus der Untersuchungshaft entlassen will. Über 1 000 Palästinenser befinden sich derzeit in so genannter Untersuchungshaft in israelischen Gefängnissen. Sie können ohne ein Verfahren sechs Monate festgehalten werden. Imans Vater sitzt gerade die achte Untersuchungshaftperiode ab, insgesamt sein viertes Jahr, und hat doch nie einen Prozess gehabt. Nach jeder Rückkehr zur Familie wurde er beim nächsten Eindringen der Armee wieder verhaftet.

Iman jedenfalls hat ihren Vater bisher immer nur für wenige Wochen erlebt. Sie macht mir einen Vorschlag: »Ihr gebt mir meinen Papi zurück, und ich gebe euch dafür den Schlüssel zu unserem Haus in Haifa, wo wir herkommen. Dann kann da jemand anders wohnen, wir haben ja schon ein Haus hier.« Nicht alle Palästinenser sind zu einer derart pragmatischen Lösung des Rückkehrrechtes für palästinensische Flüchtlinge bereit. Zum Abschied fragt Iman mich noch verwundert, wo ich denn mein Gewehr hätte, schließlich käme ich aus Israel.

Der Weg nach Maaleh Shomron ist nicht weit. Die Siedlung liegt an einer der nur für Israelis zugänglichen Transitautobahnen im nördlichen Westjordanland, nicht weit vom palästinensischen Nablus. Einige Siedler haben sich versammelt, um zu beraten, wie sie ihren Protest gegen die Road Map organisieren wollen. Wie überall in Israel lassen sich zwei Strömungen ausmachen. Eine kleine Gruppe glaubt an Sharons Sinneswandel und will die Kampagne deshalb gegen den Ministerpräsidenten richten, der größere Teil der anwesenden Siedler ist jedoch davon überzeugt, dass »der Arik« nur dem amerikanischem Druck nachgegeben habe und alles daran setzen werde, die Road Map zu sabotieren.

»Warum wollte er Abu Mazen denn die Kontrolle über Teile des Westjordanlandes geben?« fragt jemand. »Doch nur, weil er weiß, dass wir die palästinensischen Sicherheitskräfte dort völlig zermalmt haben und Abu Mazen an einer solchen Aufgabe scheitern muss.« Doch wirklich überzeugt scheint er von seiner Theorie nicht.

»Dass Sharon die Road Map akzeptieren musste, kann ich noch verstehen, aber warum erzählt er uns, die Besatzung sei schrecklich? Dazu hat ihn doch niemand gezwungen.« Es wird laut und ergebnislos diskutiert. Der Mann, von dem Yoel Marcus in der liberalen Tageszeitung Ha’aretz schreibt, er tue immer das Gegenteil von dem, was er sage, und sage das Gegenteil von dem, was er tue, hat seine Anhänger und Feinde wieder einmal gleichermaßen verwirrt.

Die Stimmung im Wohnzimmer steigt, als in den Abendnachrichten Uzi Landau, Likud-Minister in Sharons Regierung und seines Zeichens überzeugter Vertreter der traditionellen rechten Parteilinie, ins Studio tritt und im Brustton der Überzeugung verkündet, Israel habe die Road Map gar nicht akzeptiert. Der Interviewer stutzt für einen Moment, dann fragt er den Minister: »Sie erzählen mir also, sie informieren uns sozusagen, dass die israelische Regierung im Widerspruch zu dem, was heute verkündet wurde, die Road Map gar nicht akzeptiert hat?« Landau antwortet: »Das stimmt. Israel hat nicht die Road Map akzeptiert, sondern nur die darin festgelegten Schritte.«

In den Tagen nach der Kabinettssitzung wurde nach und nach bekannt, dass Sharon sich seine Mehrheit regelrecht erlogen hat. Den rechten Ministern der Nationalreligiösen Partei versprach er, alles zu tun, um den amerikanischen Plan zu sabotieren, und bat sie, die Regierung nicht zu verlassen, da er dann eine Koalition mit der Arbeitspartei eingehen müsste und sie ihm bei der Blockade des Friedensprozesses die Hände binden würde. Einige Minister aus den eigenen Reihen überzeugte er davon, dass er zur Akzeptanz des Plans gezwungen wurde und dass die Amerikaner versprochen hätten, alle vierzehn israelischen Anmerkungen voll und ganz zu berücksichtigen. Wieder andere bekamen zu hören, dass die Besatzung schlecht für Israel und die Palästinenser sei und deshalb ein Ende finden müsse.

Für jeden Minister eine maßgeschneiderte Begründung. Dass Scharon einige von ihnen belogen haben muss, ist dabei allen klar. Doch wie ernst ist es Sharon mit dem Friedensprozess? Einer in der Tageszeitung Ma’ariv veröffentlichten Umfrage zufolge befürworten 62 Prozent der Israelis den Rückzug aus den palästinensischen Gebieten, doch 67 Prozent glauben, dass Sharons Bemerkungen über das notwendige Ende der Besatzung ein PR-Manöver waren.

Die entscheidende Frage aber ist: Wie ernst meint es George Bush? Denn niemand bezweifelt, dass der US-Präsident in Wahrheit den Schlüssel zum Erfolg der Road Map in den Händen hält. Ein israelischer General soll in der vergangenen Woche bei der Washingtoner Regierung nachgefragt haben, wie ernst es dem Präsidenten mit seinem Friedensplan für den Nahen Osten denn wirklich sei. »Geh’ und frag’ Saddam Hussein, wie ernst es Bush ist!« war die Antwort. Für Bush stellt sein verstärktes Engagement im israelisch-palästinensischen Konflikt ein großes Risiko dar. In wenigen Monaten beginnt der Wahlkampf in den USA, und einen fehlgeschlagenen Friedensprozess kann der Präsident sich da nicht leisten.

Ob Sharons Metamorphose vom Bulldozer zum Friedensfürsten eine Überzeugungstat oder ein taktischer Schachzug ist, bleibt unter diesen Voraussetzungen sekundär. Gute Beziehungen mit den USA haben für Sharon oberste Priorität, und er weiß, dass sein Freund im Weißen Haus ziemlich ungemütlich werden kann, wenn er nicht bekommt, was er will.

Doch völlig unabhängig vom Erfolg der jetzigen Initiative hat Sharon einen Prozess in Gang gesetzt. In der Tageszeitung Yediot Achronot schreibt Sima Kadmon: »Sharon weiß ganz genau, dass ein Prozess, der einmal begonnen hat, eine Eigendynamik entwickelt. Was die rechte Regierung Sharons gestern begonnen hat, kann ganz von allein weiterrollen, und was wie eine taktische Maßnahme ausgeschaut hat, wird dann zu einer vollendeten Tatsache. Deshalb kann nicht ausgeschlossen werden, dass Sharon gestern den ersten Schritt zu einem historischen Prozess unternommen hat. Es ist zwar noch immer ein kleiner Schritt für Israel, aber zweifelsohne ein riesiger Schritt für Ariel Sharon.«