Der Kurzschluss

Deutsche Debatte über Kriegslügen von carlos kunze

Wenn fremde Staatschefs beim Lügen ertappt werden, dann ist High Noon in Deutschland. Denn denen schuldet man – anders als dem deutschen Staatspersonal – keine Loyalität. Und wenn sie wie George W. Bush und Tony Blair auch noch den Plänen des deutschen Staates im Weg stehen, gibt es kein Halten mehr. Dann wird die Metaphernmaschine angeworfen, um ihnen mit deutschem Moralin den Rest zu geben.

»Schlimmer als Watergate« war die Situation in London nach einem Bericht von Michael Sontheimer bereits Anfang Juni – noch vor dem Selbstmord Kellys: »Einmal mehr steht jetzt die Glaubwürdigkeit des Premierministers in Zweifel, dessen ›spin doctors‹ (…) die schwarze Kunst der Manipulation zu einer auf der Insel ungekannten Blüte gebracht haben.« Mittlerweile ist das noch schlimmer geworden: »Das halbe Volk hält Blair für einen Lügner.« Die Folge liegt auf der Hand. »Sollte Blair der Lüge überführt werden, könnte er dem Druck zurückzutreten kaum mehr standhalten«, heißt es im Spiegel.

In den USA aber sind nicht nur Hexenmeister der Manipulation am Werk, da werden die Gehirne der Staatsbürger systematisch vergiftet. »Widerstand gegen ›Brainwashington‹« entdeckte Jochen Bölsche bereits Mitte März, als er auf Spiegel-online schrieb: »Weltweit wächst die Wut über die Kriegspolitiker und Hirnwäscher im Weißen Haus. ›Der Ekel, angelogen zu werden‹, veranlasst auch Hunderttausende junger Amerikaner, sich zur Wehr zu setzen.«

Von britischen Hexenmeistern der Manipulation und US-amerikanischen Hirnwäschern aber lässt sich der deutsche Michel nichts vormachen. Nicht einmal dann, wenn die »Macht« der »US-Lobby« zur »Beeinflussung der Meinung hierzulande traditionell groß« ist, wie Albrecht Müller, der 1972 für Willy Brandt selig den Wahlkampf führte, in der Süddeutschen Zeitung sekundiert. Denn man muss doch die Fakten sehen. Die USA haben »jene Völker des neuen Europa gegen uns mobilisiert, deren Entwicklung wir als Hauptzahler der EU wesentlich fördern«; die »Fundamentalisten um Bush« halten »den Krieg, auch den Präventivschlag, für ein normales Mittel der Politik«. Und jetzt fordern sie »sehr dreist« die »Kriegsgegner in der Nato auf, nun ihrerseits Personal bereitzustellen«. Da sollten sie lieber die »Regierungen der so genannten Willigen« fragen, damit die »ihren Völkern« erklären müssten, warum nun »ihre Soldaten in ein besiegtes, aber unbefriedetes Land ziehen sollen«.

Die hiesige Regierung aber muss »ihrem Volk« in der Frage des Irakkrieges nichts erklären. Dieser Kurzschluss zwischen Regierenden und Volk ist symptomatisch für den deutschen Staatsfetischismus. Der hat die Verschmelzung des ominösen Volkswillens mit der Staatspolitik zum Ziel. Das hat beim Irakkrieg prima geklappt: Das deutsche Staatspersonal präsentierte sich als Protagonist der friedensstiftenden Weltmacht Europa. Deshalb war es des friedlichen Volksvertrauens würdig – völlig unabhängig von seinen Kungeleien mit dem baathistischen Regime. Und dieses Vertrauen spielt es nun gegen die angelsächsischen Rivalen aus, bei denen diese Verschmelzung nicht so einfach funktioniert, weil noch ein gewisser Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft besteht.