Gesund ist, was krank macht

Viel war zuvor von Eigenverantwortung die Rede. Jetzt ist klar, was damit gemeint war: Die Patienten bezahlen die Gesundheitsreform. von philipp steglich

Angekündigt war wieder einmal eine »Jahrhundertreform«, diesmal zur Rettung der Krankenversicherung. Angetreten ist Ulla Schmidt, die Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung, vormals Kommunistischer Bund Westdeutschlands (KBW), jetzt SPD. Sie unterbreitete den Vorschlag, die Finanzierung des Krankengeldes den Lohnabhängigen allein zu überlassen.

Die CDU/CSU hingegen verlangte die Ausgliederung des Zahnersatzes aus der gesetzlichen Krankenversicherung. Dagegen hatte ihr Gesundheitsexperte und Verhandlungsführer Horst Seehofer noch vor wenigen Wochen öffentlich protestiert. Die Verhandlung muss ein harter Kampf gewesen sein, denn beschlossen wurde am Ende beides.

Schlimmer hätte es kaum kommen können. Von den insgesamt 20 Milliarden Euro, die eingespart werden sollen, wollen Schmidt und Seehofer bei den Versicherten 17 Milliarden holen. Ab 2005 wird der Zahnersatz nicht mehr zum Leistungsangebot der gesetzlichen Krankenkassen gehören, die Absicherung durch eine zusätzliche private Versicherung wird aber zur Pflicht. Das Krankengeld bleibt in der gesetzlichen Versicherung, soll jedoch ab 2007 allein von den Lohnabhängigen bezahlt werden. Die Unternehmer können ihren Anteil behalten. So funktionieren Kompromisse in der Konsensgesellschaft. Am Ende zahlen immer dieselben Leute die Rechnung.

Schon ab 2004 sollen die Patienten für alle medizinischen Leistungen mehr bezahlen, mindestens fünf und maximal zehn Euro. Dies betrifft die Verschreibung von Medikamenten, aber auch, und das ist wirklich neu, den Arztbesuch. Zehn Euro pro Quartal und Behandlungsfall werden fällig. Für Klinikaufenthalte sollen künftig in den ersten vier Wochen täglich zehn Euro von den Kranken bezahlt werden. Das Sterbegeld und das Entbindungsgeld werden gestrichen, ebenso wie die sowieso schon mickrigen Zuschüsse für Brillen. Vereinzelt sind Ausnahmen für Kinder oder chronisch Kranke vorgesehen, auch für sozial Benachteiligte. Insgesamt jedoch wird es zu deutlichen Belastungen der Patienten kommen.

Damit kein Neid aufkommt, wird auch dem medizinischen Sektor etwas abverlangt. Wenn alle für den Standort, ja für Deutschland opfern müssen, dann bitteschön auch unsere Pharmaindustrie, unsere Ärzte und Apotheker. So wird nun von den Ärzten gefordert, sich auch während der Ausübung ihres Berufs weiterzubilden, und die Patienten bekommen einen Bundesvertreter, der ihre Interessen stärken soll. Damit es mal so richtig gerecht zugeht.

Bei der Veröffentlichung der Verhandlungsergebnisse auf der Bundespressekonferenz zeigten sich Schmidt und Seehofer als ein scherzendes, fröhliches Duo. Ursprünglich sollten die Ergebnisse in der Talkshow von Sabine Christiansen vorgestellt werden. Schade eigentlich, dass es nicht dazu kam, denn dies hätte dem Showcharakter, mit dem der Sozialabbau präsentiert wird, den passenden Ausdruck verliehen.

Dass man sich als Vorkämpfer der kleinen Leute inszenieren kann und gerade diesen dann alle Belastungen aufbürdet, zeigte Seehofer. Seine Kritik an der Gesundheitspolitik der Union führte dazu, dass er auf der Rangliste der beliebtesten Politiker Deutschlands nach oben schnellte und prompt zum Verhandlungsführer der Union gemacht wurde. Als dieser setzte er dann all das durch, was er zuvor kritisiert hatte.

Kritik am Verhandlungsergebnis kam u.a. von der FDP. Den Liberalen gehen die Einsparungen nicht weit genug, ihr Fraktionsvorsitzender im Bundestag, Wolfgang Gerhardt, fordert die Einführung des »privaten Kapitaldeckungsverfahrens«, etwa über Aktien- oder Immobilienfonds. Dieser kapitalistische Traum würde bei einer Wirtschaftskrise oder einem Börsensturz den völligen Ruin der sozialen Sicherungssysteme bedeuten.

Kritik an dem Reformvorhaben gab es nur in Teilbereichen. Der Sozialverband VdK wünscht, den »Zahnersatz nicht pauschal für alle zu streichen«, sondern »zumindest Versicherte über 50 Jahre und Rentner« davon auszunehmen, da diese keine Möglichkeit mehr hätten, sich ausreichend zu versichern.

Auch der Verband der Hausärzte kann nur im Detail Kritikwürdiges an der Reform erkennen. »Die generelle Einführung einer Zuzahlung von zehn Euro je Quartal und Behandlungsfall, unabhängig davon, ob er indiziert oder unsinnig ist, kann dazu führen, dass Patienten zu spät mit ernsten gesundheitlichen Problemen ihren Hausarzt konsultieren. Dieser Effekt, Arztkontakte zu vermeiden, wird verstärkt durch die erwartbaren erheblichen zusätzlichen finanziellen Belastungen, die der Patient zu tragen hat«, hieß es in einer Erklärung.

Dass das in den vergangenen Jahren mühsam aufgebaute System der vorbeugenden Untersuchungen, etwa bei der Krebsvorsorge oder der Zahnprophylaxe, durch die Zuzahlung in Gefahr gerät, stört in der Politik kaum jemanden. So sieht das viel beschworene Prinzip der »Eigenverantwortung« aus: Geh nicht zum Arzt, wenn du es dir nicht leisten kannst.

Die Gewerkschaften, von dem gescheiterten Streik in Ostdeutschland völlig paralysiert, richten ein paar mahnende Worte in Richtung der Regierung, das ist mehr, als man von ihnen momentan erhofft hat. In der SPD ist man hingegen höchst zufrieden, der Bundeskanzler Gerhard Schröder stellt fest: »Es kann sich sehen lassen. Die Strukturen im Gesundheitswesen werden verändert, es wird eine neue Balance geschaffen zwischen den Verantwortlichkeiten der Patienten für sich selbst und den Interessen der Versicherten.«

Dabei scheint »die größte Sozialreform in der Geschichte der Bundesrepublik« schon nach ein paar Tagen wieder überholt. Die Krankenkassen wollen erst ihre Schulden abbauen, bevor sie ihre Beitragssätze senken. Von dieser Senkung erhoffte sich Schmidt eine »Entlastung« der Unternehmer und damit die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Zudem sollte der Anteil, den der Versicherte spart, die Zuzahlungen teilweise aufwiegen. Davon kann nun keine Rede mehr sein.

Der »Reformmotor« aber darf nicht zum Stillstand kommen, weitere Strukturveränderungen werden gefordert. Der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) sowie Bert Rürup, der oberste Reformkommissar der Bundesregierung, favorisieren das Schweizer Modell der »Kopfprämie«: Jeder Bürger zahlt einen Beitrag von monatlich etwa 200 Euro zur Krankenversicherung, bei sozial Benachteiligten soll der Staat hinzuzahlen. Bei diesem Modell werden vor allem, wer hätte es nicht geahnt, die Gutverdienenden entlastet.

Unerwartet viele Politiker geben jedoch einer »Bürgerversicherung« den Vorzug. In diese sollen nicht nur wie bisher die Lohnabhängigen, sondern auch Selbständige und Beamte einzahlen. Sogar Mieteinnahmen und Zinseinkünfte sollen herangezogen werden. Deshalb ist nicht nur für Erhard Geyer, den Vorsitzenden des Deutschen Beamtenbundes, die Bürgerversicherung »Sozialismus pur, nichts anderes«.

In der Tat stimmt es nachdenklich, wenn man sich die Schar der Befürworter der Bürgerversicherung ansieht. Darunter sind Außenminister Joschka Fischer, die grüne Fraktionsvorsitzende Krista Sager, Ludwig Stiegler (SPD), Horst Seehofer und Ulla Schmidt. Dass aber ausgerechnet dieser Personenkreis das Kapitalvermögen stärker zur Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme heranziehen wird, ist schlicht nicht zu glauben. Welche unsozialen Maßnahmen mit der Bürgerversicherung einhergehen, wird man spätestens nach der nächsten »Jahrhundertreform« wissen.