Hauptsache Arbeit

Hauptsache Arbeit Die britische Regierung hat es geschafft, die offizielle Arbeitslosenzahl auf fünf Prozent zu reduzieren. Wie man so etwas macht, beschreibt matthias becker, london. Teil I

Linda Tree (Name geändert) ist arbeitslos, und das ist nicht nur für sie schlecht, sondern auch für ihren Sachbearbeiter. Er muss sie nämlich beraten, und nur gelungene Vermittlungen machen sich wirklich bezahlt. Mitarbeiter in englischen Vermittlungsagenturen werden mittlerweile mit Erfolgsprämien motiviert. Das ist auch nötig, denn seit der Reform der Arbeitsämter wurde kontinuierlich Personal abgebaut und die große Zahl der Beratungen ist kaum zu bewältigen. Regelrechte Arbeitsämter gibt es in Großbritannien nicht mehr, stattdessen so genannte Job Center Plus: schicke klimatisierte Büros mit neuen Computern, Teppichen und musikalischer Dauerberieselung. Hier ist der Arbeitslose Kunde – solange er sich motiviert zeigt. Dennoch klagen Angestellte, dass tätliche Angriffe in letzter Zeit immer häufiger werden, und wünschen sich die sichernden Glasscheiben von früher zurück.

Nach der Besichtigung eines Londoner Job Centers im vergangenen Monat war der deutsche Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement so beeindruckt, dass er sagte, es sei »das beste in Europa«. Linda Tree ist davon weniger überzeugt. Ganze 43 Pfund (60 Euro) Sozialhilfe/Arbeitslosengeld in der Woche erhält sie; wer älter als 24 Jahre ist, bekommt 54 Pfund (76 Euro). In Sonderfällen erhält man zusätzliche Leistungen. Unter der Regierung von Margret Thatcher wurde allerdings ein surreales Kreditsystem auf den Sozialämtern eingeführt. Bedürftigen wird Geld für besondere Ausgaben, beispielsweise für neue Vorhänge oder einen Kühlschrank, prinzipiell nur geliehen. Je kreditwürdiger man ist, desto höher fallen die Auszahlungen aus.

Der Willkür der Betreuer sind dabei kaum Grenzen gesetzt. Ein Viertel aller Entscheidungen wird gerichtlich revidiert, wenn sich die Leistungsempfänger zu einer Klage entschließen, was aber selten vorkommt. Ein engmaschiges Kontrollsystem stellt sicher, dass so genannte Sozialbetrüger keine Chance haben. Wer 18 bis 24 Jahre alt ist, dem können bei Fehlverhalten für vier Wochen sämtliche Leistungen (bis auf das Wohngeld) gestrichen werden. Glücklich ist, wer jetzt Freunde hat oder sich wenigsten mit seiner Familie gut versteht, denn vom Staat können junge englische Arbeitslose in diesem Fall nichts erwarten.

Tree hat schon über 13 Wochen Arbeitslosengeld bezogen, deshalb spielt ihre frühere Qualifikation nun keine Rolle mehr. Dabei ist sie glücklich, dass sie überhaupt wieder anspruchsberechtigt ist. Ihre letzte Stelle hat sie selbst gekündigt, was ihr eine halbjährige Sperre einbrachte. »Es war einfach zu viel«, sagt sie, »über 50 Stunden die Woche arbeiten und jeden Tag noch zwei Stunden Fahrtzeit dazu!« Großbritannien hat die längsten Wochenarbeitszeiten in Europa, 50 oder gar 60 Stunden sind keine Seltenheit.

Die neuen Jobvermittlungsagenturen werden gerne auch »Karrierezentren« genannt. Sie arbeiten eng mit lokalen Leasingfirmen zusammen. »Aufstieg« bedeutet meistens, in einem der zahllosen Call Center beschäftigt zu sein. Dort sind immer Stellen frei. Angeblich waren Mitte der neunziger Jahre in Großbritannien mehr Menschen mit Telefonmarketing beschäftigt als im produzierenden Sektor. Meistens wird für kaum mehr Geld telefoniert, als es der Mindestlohn vorschreibt. New Labour hat diesen Mindestlohn eingeführt und feiert ihn gerne als historischen Durchbruch. Ursprünglich waren es vier Pfund und zehn Pence (5,74 Euro) pro Stunde, im März wurde der Betrag um 40 Pence erhöht. Er ist so niedrig, dass sogar der Widerstand der Arbeitgeber verhalten war. Von einem solchen Stundenlohn lässt sich kaum leben, vor allem nicht in London. Kein Wunder, dass manche Engländer zwei oder sogar drei solcher Jobs annehmen müssen, um einigermaßen über die Runden zu kommen.

Steuervergünstigungen stellen sicher, dass es für Arbeitslose finanziell besser ist, schlecht bezahlte Arbeit anzunehmen, als den Mindestsatz der Sozialhilfe zu beziehen. Wer mehr als 16 Stunden in der Woche arbeitet, gilt als beschäftigt und taucht fortan in der Arbeitslosenstatistik nicht mehr auf. Wer trotzdem zu wenig verdient, behält einen Teil der staatlichen Unterstützungen. Die beeindruckende Arbeitslosenquote, ohnehin absichtsvoll durch statistische Finessen manipuliert, wird mit der staatlichen Subvention eines riesigen Niedriglohnsektors erkauft, vor allem in den öffentlichen Diensten. In englischen Krankenhäusern werden Reinigungs- und Küchendienste üblicherweise von mehreren verschiedenen Agenturen organisiert. Das Personal arbeitet für den Mindestlohn, manchmal auch für weniger als gesetzlich vorgeschrieben – was illegal ist, wofür sich aber außer den Betroffenen kaum jemand interessiert.

Die Schriftstellerin Polly Toynbee machte im Herbst des vergangenen Jahres den Versuch, vom Mindestlohn zu leben, und arbeitete einige Wochen als schlecht bezahlte Putzfrau, Altenpflegerin und in anderen Gelegenheitsjobs. Ihre Erfahrungen verarbeitete Toynbee in der Sozialreportage »Harte Arbeit«, die in der britischen Öffentlichkeit zur Zeit heftige Diskussionen auslöst. »Wir haben eine hohe Arbeitslosenquote eingetauscht für Massen von arbeitenden Armen«, sagt sie im Gespräch mit der Jungle World. »Es muss endlich Schluss gemacht werden mit der staatlichen Subventionierung von Löhnen, von denen man nicht leben kann.«

Auch vielen Unternehmern dürfte klar sein, dass mit den Lohnzuschüssen unproduktive Firmen am Leben gehalten werden, die ansonsten der Konkurrenz nicht gewachsen wären. Der Dienstleistungssektor wird aufgebläht, ohne dass auf Dauer Arbeitsplätze oder nennenswerte Profite entstünden.

»Das Ziel seit den achtziger Jahren ist es, die Menschen aus der Abhängigkeit heraus in Arbeit zu vermitteln«, erklärt Martin Evans, Experte für Sozialpolitik an der Universität von Bath. Seitdem die Sozialhilfe und die Arbeitsvermittlung zusammengelegt wurden, ist es das übergeordnete Ziel der Sozialpolitik, die Armen zu beschäftigen. Im Frühjahr wurden wieder zahlreiche Bestimmungen verschärft. Nun gelten anderthalb statt einer Stunde Fahrt zum Arbeitsplatz als zumutbar, und die Arbeitslosen müssen sich wöchentlich melden, um zu belegen, dass sie auch wirklich »aktiv Arbeit suchen«.

Mehr als 25 Prozent aller Beschäftigten leben von Gelegenheitsjobs. Umfragen zeigen ihre wachsende Unzufriedenheit. Eine Arbeitslosenbewegung gibt es trotzdem auch in England nicht. Shanty Halft vom unabhängigen Zentrum Unemployed Workers Brighton macht die Unübersichtlichkeit des Systems mitverantwortlich dafür, dass Arbeitslose individuelle Auswege suchen, statt zu protestieren und sich zu organisieren. Die Gruppe berät Arbeitslose in rechtlichen Angelegenheiten und protestiert gelegentlich gegen die lokalen Vermittlungsagenturen. »Die Leute zögern, aktiv zu werden«, sagt Shanty. Für sie ist die Subvention des Niedriglohnsektors vor allem ein Mittel, die Löhne insgesamt zu drücken und eine »Kultur der Nichtbeschäftigung« zu verhindern.