Unter Schweinen

Annie Proulx sagt, wo es stinkt: »Mitten in Amerika«. von maik söhler

Schon die Schilder an der Straße sind deutlich: »Eindringlinge werden erschossen, Überlebende verfolgt« und »Anhalter können entflohene Sträflinge sein«.

Willkommen im Panhandle. Willkommen im äußersten Norden von Texas und ein bisschen auch im Süden Oklahomas; willkommen auf dem flachen Land, wo jeder Hügel wie ein Berg wirkt, wo Wasser knapper als Öl und der Intellekt noch karger als die Landschaft ist; willkommen dort, wo es mehr Zäune als Städte und mehr Kirchen als Kneipen gibt.

Wer hier lebt, liebt Pferde, Cowboystiefel und seine Familie (manchmal mehr, als es die Gesetze erlauben). Er hasst Schwarze, Schwule und Liberale, die ja ohnehin alle Kommunisten sind. »Exzentrische Eigenheiten wurden geschätzt und gepflegt, solange sie nicht allzu eigen waren. Aber dunkle Haut, ungewohnte Sprachfärbung und Manifestationen von Homosexualität oder unverhülltem Liberalismus kamen nicht in Frage«, lässt Annie Proulx ihren Protagonisten Bob Dollar sagen.

Und so besteht das Personal aus Proulx’ neuem Roman »Mitten in Amerika« eben hauptsächlich aus Landeiern und dogmatischen Christen, aus Abtreibungsgegnern, Heimatschützern, Patrioten und Rassisten. Wer noch nicht seit 20 Jahren in der Region Panhandle lebt, wird als Neuankömmling betrachtet. Zwar sind manche reich und viele arm, besitzt der eine eine Farm, auf der der andere im Lohn steht, aber »der große Gleichmacher war die Arbeit, die Arbeit und das Land, der doppelte Trumpf aller Landmenschen«, meint Bob Dollar.

Sein Name ist Programm. Angeheuert von einem Schweinemastkonzern, soll Dollar, ein frustrierter und perspektivloser Mittzwanziger, für seine Firma im Panhandle Grundstücke ausfindig machen, die sich zum Aufbau eines Schweinemastbetriebes eignen. Da es in der Region schon einige industrielle Schweinefarmen gibt, die wegen des Gestanks, den sie verbreiten, nicht besonders beliebt sind, hat er sich inkognito unter die Bevölkerung zu mischen, herauszufinden, wer demnächst sein Grundstück zu verkaufen gedenkt, und die potenziellen Verkäufer der Zentrale in Denver zu melden.

Es ist eigentlich ein schlichter Job, den Dollar als Handlanger des Schweinekapitalismus zu erledigen hat. Und doch bringt er ihn in allerlei Schwierigkeiten mit der Landbevölkerung des Panhandle einerseits und mit seinen Vorgesetzten andererseits. Dollar verschlägt es in das kleine Nest Woolybucket, und dort steht er im Mittelpunkt des Konflikts zwischen einer kapitalistischen Moderne, die expandieren will und muss, und einer (nicht weniger kapitalistischen) Antimoderne, die zwar den Reichtum will, nicht aber seine unangenehmen Begleiterscheinungen, in diesem Fall in Form von stinkenden Zuchtbetrieben, die wegen ihrer rationellen Methoden noch nicht einmal Arbeitsplätze bringen.

Dieser Konflikt war es auch, der Mitte des 19. Jahrhundert zum Bürgerkrieg zwischen den Nord- und Südstaaten der USA, dann zum militärischen Sieg des Nordens, schließlich zum Ende des rassistisch-feudalen Plantagensystems und zum wirtschaftlichen Aufstieg des gesamten Landes führte.

Seither hat man es sich selbst im Panhandle angewöhnt, stolz auf die amerikanische Fahne zu sein, so stolz, dass sie nicht selten als Sargschmuck mit ins Grab kommt, während über der Erde auch noch die irresten Bezüge aufs Christentum dauerhaft konserviert sind. Als Dollar einen Friedhof besucht, findet er einen Grabstein mit eingemeißeltem Telefonapparat und der Inschrift: »Jesus hat angerufen«.

Seine Vermieterin LaVon vermag selbst im Ku-Klux-Klan nichts anderes als eine religiöse Organisation zu sehen: »Nein, aus meinem Mund werden Sie nie ein Wort gegen den Klan hören. Er war eine Gemeinschaftsorganisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, für anständiges christliches Benehmen zu sorgen. Ich persönlich finde, dass der Panhandle ohne den Klan nicht der Panhandle wäre.«

LaVon ist es auch, die Dollar in die Geschichte der Region einführt. Sie schreibt an einem »ländlichen Kompendium« und sammelt dafür allerlei Dokumente und Material von ihren Bekannten und Nachbarn. Ihren Geschichten und Mythen rund um Viehtrecks, Farmarbeit und das legendäre »Stacheldrahtfest« in Woolybucket lauscht Dollar, dessen Gemüt ebenso schlicht ist wie sein Job, gerne.

»Was wir hier haben und was in den Großstädten unbekannt ist, das ist Gemeinsinn, jawohl«, weiß LaVon, und der elternlose Schweinemastagent ist von ihr ebenso gerührt wie von dem erfolgreichen Windrad- und Bohrunternehmer Ace Crouch, als dieser sagt: »Hat denn der Landmensch, der hier geboren ist, kein Recht darauf, hier zu leben? Mehr Recht, als irgendein abwesender Schweinezüchter darauf haben kann, die Gegend zu ruinieren?«

Ace Crouch ist der wahre Held des Romans, weil sich um ihn später der Widerstand gegen das Schweinesystem organisieren wird. Er ist der Inbegriff des fleißigen Texaners, der es trotz der widrigen Umstände und der feindlichen Natur mit seiner Hände Arbeit, ein wenig Grips und ein bisschen Glück zu Wohlstand und Ansehen gebracht hat. Selbst gegen die Machenschaften der Konzerne weiß sich der schweigsame, aber integrative Crouch zu helfen.

So heimatduselig und reaktionär Proulx’ Personal durch den Panhandle galoppiert, so feinsinnig und differenziert wird nebenbei die Geschichte einer weitgehend unbekannten Region erzählt, die gleichermaßen interessant wie erhellend ist. »Mitten in Amerika« ist eine Mischung aus der Kulturhistorie der Cowboys, von denen nicht wenige schwul waren, der Siedlungssoziologie Amerikas, die untrennbar mit dem Siegeszug der kapitalistischen Moderne verbunden ist, und der Psychogenese der Farmer und Landarbeiter, die, wie Proulx zeigt, alles andere als »Schwache« (FAZ) oder »Namenlose« (Freitag) sind.

Dass sie LaVons »ländliches Kompendium« schließlich selbst geschrieben hat, legt Proulx am Ende mit ihrer mehr als vierseitigen Danksagung an allerlei Archivare, Farmer, Naturforscher, Biobauern und Landschaftsmaler offen. Hätte sie diese Freude fürs Detail und vor allem fürs Abseitige auch ihrem Protagonisten Dollar zugute kommen lassen, so ließe sich der Roman nicht nur als heiteres Brevier des Grauens lesen.

»Mitten in Amerika« ist Proulx’ vierter Roman und ihr fünftes Buch. Nach dem Erzählungsband »Weit draußen« und dem Roman »Schiffsmeldungen« hat sie sich nun zum dritten Mal intensiv mit einer speziellen Region beschäftigt. Waren die »Schiffsmeldungen« samt ihrem sympathisch-verschnarchten Antihelden Quoyle eine luzide Nahaufnahme lokaler Zustände in Neufundland, so bleibt diesmal nur der identitätssuchende Zoom auf eines der noch nicht erwähnten Straßenschilder im Panhandle: »Hier ist es am schönsten auf der Welt«.

Annie Proulx: Mitten in Amerika. Aus dem Amerikanischen von Melanie Walz. Luchterhand, München 2003, 511 S., 25 Euro