Sleeper Cell

Meldung 3242, Hauptquartier

Der beste Platz auf der Welt ist das Bett. Ganz gleich, was sonst geschieht. Wenn wir sterben müssen, dann auf unserer Matratze. Es ist unser Raumschiff, das Dunkel des Weltraums umgibt uns, von hier werden unsere letzten Worte ertönen. Alle Welt, hört jetzt unsere letzten Worte …

Ich schreibe dies, um in Schwung zu kommen. Um einen Anfang zu finden. Auch um superscharfkorrekt zu dokumentieren. Ich liege also auf dieser hellgrünen Matratze in einem großen weißen Zimmer, von einem Secondhand-Kronleuchter schwach ausgeleuchtet. Seit drei Jahren dient uns dieser White Room als so eine Art Exil, eingerichtet im Stil Louis XIV, wie dieses Zimmer am Ende von »2001: A Space Odyssey«, wenn euch das noch was sagt. Durch einen winzigen Sehschlitz in der Mauer kann man vom Bett nach draußen blicken. Ich erkenne eine weite Fläche, die wie eine amerikanische Urlandschaft aussieht. Wüst, flach, verlassen. Im Vordergrund steht eine Palme, die im Wind rhythmisch schwankt. Daneben ein leerer Swimmingpool, der mit aufgerissenen UPS-Päckchen aufgefüllt ist.

Sicher fragt ihr euch jetzt, wieso wir uns isolieren und warum wir in diese Lage geraten sind. Passt auf, davon handelt diese Geschichte.

Seit drei Jahren leben wir im kalifornischen Hinterland, gut zwei Stunden östlich von Los Angeles. Wir haben uns eine der kargsten Hütten in der Ortschaft Wonder Valley ausgesucht. »Ortschaft« ist übrigens ein bisschen übetrieben. 65 Hütten sind hier über fünfzig Quadratmeilen verstreut, die meisten sind verfallen. Es leben hier etwa 200 Menschen, aber so genau weiß das niemand. Es sind Idylliker, Sozialhilfeempfänger, alte Minenarbeiter, Supergescheiterte, ausgemusterte Marineinfanteristen, Außenseiter. New Age-Aussteiger aus New York sind auch dabei. Die meisten Leute möchten hier in Ruhe gelassen werden oder in ihrer Isolation untergehen. Dazu gehören wir nicht. Doch wir sind vorsichtig. Manchmal befallen uns Delirien der Exaktheit, des Irrsinns, des perfekten Protokolls, des Abgespacesten, wozu Sprache, Denken und Erinnerung fähig ist. Das geht natürlich so nicht. Meine Vergangenheit muss total unwichtig bleiben. Wir verfolgen hier einen Plan. Unsere Auftraggeber haben uns noch sechs Monate gegeben. Dann wollen sie Resultate sehen. Daran wollen wir uns halten. Ein eindeutiger Auftrag mit klaren Verboten: Kein Sex. Kein Protest. Keine Schießübungen. Keine Sabotage.

Unsere Fenster sind mit Brettern verriegelt. Es herrscht totale Verdunkelung. Nicht bloß eine Vorsichtsmaßnahme: Meine Komplizin, sie nennt sich Hannah, arbeitet hier ganz offiziell an einem »Forschungsexperiment« für die University of Southern California in Los Angeles. Titel: »100 Schritte zur Ästethik der Existenz«. Es ist natürlich reine Tarnung. Und eine ideale Rechfertigung für unsere Anwesenheit in Wonder Valley. Hannah nennt es auch »Noir in totaler Überbelichtung«. Sehr süß und melancholisch. Wir liegen dazu nackt auf der Matratze und studieren die Geräuschlosigkeit. Dazu »Beben«, »Schwindel«, »Implosion«, »Lüge«, »Richtigstellung«, »Zittern«, »Angst«, »Frühling in Berlin« … Es geht bloß darum, Zeit zwschen Kontrolle und Aktion totzuschlagen. Das ist alles. Wenn ich es mir recht überlege, dann betreibt Hannah eine phänomenologische Untersuchung über »Erected Spaces«. Soll heißen: Die Menschen auf der Erde kommen nicht irgendwie in Raum und Zeit vor, sondern sind selbst räumlich und zeitlich … Aber das ist eine ganz andere Geschichte.

Wir fahren einen Land Rover 2002. Das ist alles, was räumlich und zeitlich für mich zählt. Halbe Stunde Schweigen.

Was solltet ihr sonst noch wissen? Wir leben hier im Zentrum der militarisiertesten Wüste der Welt. Thanks. Wir haben unser neues »Zuhause« nach einer sechsstündigen Suche entdeckt, phantastischer Zufall, es liegt strategisch ideal auf einer Anhöhe mit Sichtrichtung auf das Hauptquartier der US-Marine-Infanterie in »29 Palms«. Das Haus hat mal einem arbeitslosen Beleuchter gehört, der für die Warner Studios arbeitete und sich hier draußen vor seinen Depressionen retten wollte. Nebenbei bietet das Gelände ideale Strahlungsfelder für unsere wahnsinnig komplizierten Apparate, besonders Richtung Nordstar und blauer Senkung am Firmament. Amerikanische Experten behaupten schon seit Jahrzehnten, diese Talebene sei einer der »aktivsten« Ufo-Landeplätze im Lande. Diese Experten werden uns keine Probleme machen. Sie haben keine Ahnung, was wir hier vorhaben. Auch okay.

Auf Hannah kann ich mich verlassen. Vorgestern ist sie 28 Jahre alt geworden, und sie weiß wirklich wunderbar genau, wie man die Welt studiert und dabei nicht in Grübelei, Introspektion und Schwermut verfällt, also Schwäche. Diese Haltung sollte Norm sein für alle Girls weltweit und ist so total ideal für diese doch eher schwierige Mission: Klares Denken. Härte im Nehmen, Kontrolle. Manchmal sagt sie so Dinge wie: Die Mojave-Wüste sei für uns der richtige Ort, denn hier können wir nicht nur ungestört operieren, forschen und untertauchen, sondern uns auch von dem messianischen Hype der Gegenwartskultur fernhalten. Hier unter der glühenden Sonne werde die intellektuelle Sensibilität, die dem Erdbewohner auch nicht weiterhelfe, so richtig schön weggeglüht. Eine »authenthische« Sensibilität entstehe. Klingt gut.

Mit der Immobilienfirma Benson in Joshua Tree hat Hannah übrigens einen Vertrag ausgehandelt und dann haben wir 15 000 Dollar hinterlegt. Wir sind jetzt offiziell Besitzer eines soliden Stücks amerikanischer Wüste. Zwischen Traum und Alptraum, Senioren-Utopia Palm Springs, US-Marinestützpunkt, meistbesuchtem Nationalpark in Kalifornien (Joshua Tree National Park), Tausenden armselig in Wohnwagen vegetierenden Sozialhilfe-Empfängern und einem der größten kalifornischen Produktionszentren des Aufputschmittels Speed. Klingt gut. Ist gut. Unsere Auftraggeber sind begeistert.

Nach Mitternacht beginnt meistens der wichtigere Teil unserer Arbeit. Viel kann ich darüber noch nicht berichten. Es beginnt mit einem Plopen am Horizont. Dann kommt es näher. Wir protokollieren. (Ich hoffe, ihr habt euch nicht zu viel versprochen. Diese Geschichte ist bestimmt keine Reise durchs deutsche Feuilleton, wenn ihr sowas erwartet habt.) Das Plopen verwandelt sich in ein tiefes, böses, rhythmisches Hämmern. Kontrolle. Furcht. Die Geräuschlosigkeit beginnt zu schmerzen. Zwanzig Apache-Helikopter fliegen Soldaten aus dem Irak nach »29 Palms« ein. Viele dieser Kriegs-Rückkehrer sind so genannte »Ausgesonderte«, »psychische Opfer«, Ausschutt. Der Alltag in der amerikanischen Wüste wird sie zu »zivilen« Monstern verwandeln. Kontrolle. Die Entlarvung dieses hellen schuldigen Ortes kann noch Monate dauern. Trotzdem gute Laune: Der »Guerrillakrieg« kann beginnen…

Mittags: Paranoia, Oberfläche, Kontrolle. Bei über 40 Grad im Schatten liegen wir wie immer auf der Matratze, über uns der Deckenventilator. Hannah erzählt. Zum Beispiel die Geschichte vom so genannten Panoramablick, der hier im Nirgendwo der Mojave-Wüste Grundlage präziser Wahrnehmung wird. Hannah kann manchmal so schön endlos und versunken in die Welt starren, und dabei schaut sie ständig auf ihre Füße, als ob sie das, was sie erzählen will, vor sich im Raum sehen kann, der sie vom Boden trennt. Es ist nämlich so: Seit wir hier draußen operieren, blicken wir tatsächlich wie außerirdische Besucher auf die Umwelt. Man hat uns auch schon angezeigt, wegen der roten Signalstrahlen, die unsere Apparate nachts für mehrere Sekunden von unserer Hütte Richtung Nordstar abfeuern. Aber daran führt nichts vorbei. Die Strahler gleichen Partylicht. Das Partyargument haben uns die Cops sofort abgenommen. Keine Hausdurchsuchung. Gute Laune. Samuel Adams Bier. Übrigens, Leute: Das ist hier keine bewusste Verrätselung. Sondern Vorsichtsmaßnahme. Danke für euer Verständnis.

Vor den Marines und der Militärpolizei müssen wir uns hüten, besonders vor den frustrierten jungen Ehefrauen, die das Leben hier draußen zu hassen gelernt haben.

Hass, Hass, Hass.

Viele Mütter warten schon seit Monaten. Immer wieder wird die Rückkehr ihrer Männer aus dem Irak verschoben. Alles, was die Langeweile des Alltags durchbricht, wird von diesen Ladies scharf beobachtet. Zum Beispiel wenn wir als supergut gelauntes Duo im einzigen Supermarket auf der Hauptstraße 62 in der Ortschaft »Neunundzwanzig Palmen« einkaufen. (Es gibt keinen schöneren Ortsnamen. Außer vielleicht Stalingrad.) Vorsicht. Niemand lacht über Dreck und Nichts in einem Supermarkt von 29 Palms. Den Frauen bleibt hier nur der Hass, maßloser Hass, Hass auf alles Leben, Hass auf ihre Männer, auf ihre Kinder, die Landschaft, den Irakkrieg, Hass auf Leben und Tod. Vielleicht auch Bush. Aber das wird hier niemand zugeben.

Natürlich ist für uns die Furcht vor einer Enttarnung ständig präsent. Diese Gefühle kommen und gehen. Alles glüht. Draußen in der Endlosigkeit herrschen jetzt launisch-heiße Winde und ein brutal überbelichteter Horizont, von zwei Scheinwerfern durchlöchert. Zivile Autofahrer sind seit Beginn des Irakkrieges gezwungen, auch tagsüber mit Scheinwerferlicht zu fahren. Damit sie die Militärs mit ihren Sonden durchleuchten können. Heimatfront.

Heute ist Montag. Wir essen Thunfisch-Sandwich. Wie immer. Dazu ein eisgekühltes Rolling Rock. Sonst trinken wir bloß Wasser, schlucken alle drei Stunden unsere Tagesration Quaint Lude-Pillen. Mit dem Arzt abgesprochen. Thanks. Das ist alles. Die Wüste ist auch heute Morgen ein Rätsel. Wir beobachten den Horizont, studieren Aktivitäten auf dem West-B-Trainingsgelände der Marines in fünfzehn Kilometer Entfernung. Rauchpilze von Haubitzeneinschlägen schweben nach oben, die Wüste frisst alle Geräusche auf. Jede menschliche Einrichtung verwandelt sich hier auch heute noch – sechzig Jahre nach Cartier-Bresson – sofort zur Metapher, zum Wim-Wenders-Kitsch. Dort eine Drive-in-Kinoleinwand in der Unendlichkeit. Hier ein ewig blinkendes Neonschild mit der Aufforderung: EAT. Jedes Kind kennt mittlerweilen die Anziehungskraft solcher Bilder – und vielleicht sogar ihre Botschaft: Die amerikanische Kultur ist die Erbin der Wüste. Wirkt aber immer noch verdammt sauber. Das muss man den Amis lassen.

Und wenn man dann hier draußen aus bloßer Langeweile mal wieder nach Jahrzehnten an den Neuen Deutschen Film denkt, dann fragt man sich auch gleich noch: Was macht eigentlich der deutsche Terrorist? Wo bewegt er sich? Bewegt er sich? Geht er, wie wir, durch eine Phase der Nachdenklichkeit, also Schwäche? Oder ist die Ruhe die Ruhe vor dem Sturm? Gut, wir haben Fehler gemacht, ja, ich auch. Dafür musste ich bezahlen. Aber dafür muss ich heute auch keine fiktiven Ebenen mehr durchhalten wie die anderen. Aber wo sind diese Terror-Energien eigentlich gelandet, im Tresor, auf einem Techno-Sampler, in den Kunstschulen, in den Printmedien. Wohl kaum: Da ziehen so viele aus der Apotheose von Sampling, Zitat, Sinnabschaffung und Pop den Fehlschluss, mit dem Konzeptjournalismus sei es jetzt ganz einfach geworden, schließlich ist der Borderline-Virus beseitigt, alles total sauber geworden, das Denken ist seine eigene Anstrengung endlich los und ersetzbar durch ein paar nette, von klugen Vordenkern gut geölte Maschinchen. Die Originale stehen dadurch natürlich unter noch heiliger Kontrolle.

Mit dieser Pilotfolge

beginnen wir den anonym erscheinenden Kolumnenroman »Sleeper Cell«.

Er findet sich zukünftig wöchentlich an dieser Stelle im Feuilleton.