Solitary Man

Johnny Cash war ein Spieler bis zuletzt. Und er hatte Fans an den unwahrscheinlichsten Orten. Ein Nachruf von ed ward

Bei meinem ersten Besuch in Nashville als Reporter einer Tageszeitung war gerade die Deejay Week, die jährliche Country Radio Convention. Das ist die Woche, in der die Country Music Awards vergeben wurden, und alle waren in der Stadt. Ein Freund aus Nashville und ich wollten zum Abendessen ausgehen und dann in einen Club, um ein bisschen Musik mitzubekommen, aber vorher mussten wir zu einer Party. Ich war am Verhungern, aber er sagte: »Wir gehen nur kurz hin, schütteln ein paar Hände und gehen wieder. Aber das muss man machen.«

Die Party war bei Mae Boren Axton, berühmt als die Autorin von Elvis’ Hit »Heartbreak Hotel« und Mutter des Singer-Songwriters Hoyt Axton. Mein Freund fand Mrs. Axton, stellte mich vor und erwähnte ein paar von den Sachen, die ich geschrieben hatte. »Ich freue mich wirklich, Sie kennenzulernen«, sagte sie. »Und falls Sie diese Woche Schwierigkeiten haben, falls Sie mit jemandem reden wollen und er nicht mit Ihnen reden will, sagen Sie ihm, er soll mich anrufen.« Dann gab sie mir ihre Karte.

Als wir weiterfuhren, sagte mir mein Freund etwas, was ich nie vergessen habe. »Nashville ist eine Welt, die aus Cliquen besteht«, sagte er, »und du bist gerade in eine der besten aufgenommen worden. Mit Mrs. Axton an deiner Seite hast du Zugang zu den interessantesten Leuten der Stadt.« Und tatsächlich, so war es. Diese Woche redete ich, hing herum, machte Interviews und tauschte Witze aus mit Guy und Susanna Clark, Rodney Crowell, Little Jimmy Dickens, den Leuten der Country Music Hall of Fame (und noch wichtiger, der Country Music Foundation), zahlreichen Songwritern, einigen Managern von BMI und, nicht zufällig, Rodney Crowells Frau, Roseanne Cash.

Die Sache, die die meisten dieser Leute gemeinsam hatten, und bei Roseanne war es ja ganz offensichtlich, war, dass ihr Leben mit Johnny Cash in Berührung gekommen war. Cash hasste die Deejay Week wie jeder vernünftige Mensch die Deejay Week hassen muss und hielt sich mit seiner Frau June Carter Cash in seinem Haus in Jamaica versteckt. »Ich bin sicher, Daddy hätte Sie gerne kennen gelernt«, sagte Roseanne zu mir.

Ich hätte Daddy selbstverständlich auch gerne kennen gelernt. Johnny Cash war, für meine Sorte Country-Fan, die Spitze. Während sich die kleinen Leute an Details aufrieben, überblickte er die ganze Welt des Country, getrennt von ihr und doch integraler Teil, das Paradox, das ihn zu dem machte, was er war. Andere sollten doch streiten, ob etwas »Country« war oder nicht. Wenn er etwas mochte, machte er es. Falls es dadurch nicht zu Country wurde, wurde es zu Cash. Er war wie Elvis: War Elvis Country oder Rhythm’n’Blues oder Pop? Nein, er war Elvis. Ende der Diskussion.

Von Anfang an stach Johnny Cash aus dem Country heraus, und vermutlich war es auch genau das, was ebenjenen Mann anzog, der Elvis entdeckt hatte: Sam Phillips (der im Juli dieses Jahres starb). Phillips brachte Cash zu Sun, dem Label, das auch Carl Perkins und Jerry Lee Lewis herausbrachte, und Cash passte genau hinein. Diese frühen Platten bei Sun – »Hey Porter«, »Folsom Prison Blues«, »I Walk The Line«, »Big River«, »Cry, Cry, Cry« – klangen wie keine Country-Platte jemals zuvor. Er kam mit der kleinsten Band aus (er selbst an der Gitarre, Carl Perkins’ Bruder Luther an der zweiten Gitarre und Marshall Grant am Bass), der Fokus lag auf seiner Stimme. Wenn man sich heute diese frühen Platten anhört, ist es schwer, sich vorzustellen, dass er 23 war, als er sie aufnahm. Die Stimme klingt wie aus Stein gehauen, einem harten Stein, wie Granit.

Das spiegelte seine Persönlichkeit. Veränderung war schwer für Johnny Cash. Als er die Liebe seines Lebens traf, June Carter, brauchte er noch qualvoll lange, bis er die Ehe mit seiner Jugendliebe endlich beendet hatte, obwohl sie schon vor langem schal geworden war. Auch brauchte er ewig, seine Abhängigkeit von Pillen loszuwerden, sogar mit June an seiner Seite, die ihm half. Er verließ Sun Records, weil Sam Phillips ihn keine Gospels aufnehmen lassen wollte. Das war eine Veränderung, mit der er nicht zurechtkam.

Gut so, denn Johnny Cashs Christentum war um vieles näher an dem, wovon Jesus in der Bibel redet, als an dem hasserfüllten Geifer, den dieser Tage viele so genannte Christen in den USA feilhalten. Johnny Cash wusste, was es heißt, ganz unten zu sein, arm zu sein, ohne Hilfe zu sein. Seine Sympathien lagen bei diesen Leuten, weil dort seine Wurzeln waren, und er hat sie nie vergessen. Er machte keinen Unterschied zwischen Schwarz und Weiß, weil für ihn die Grenze zwischen Reich und Arm verlief. Einer der ersten Musiker außerhalb seines eigenen Zirkels, zu dem er die Hände ausstreckte, war Bob Dylan.

Zwischen 1956 und 1976 hatte er 48 Platten in den amerikanischen Pop Charts, und 68 – zumeist Top-Ten-Hits – in den Country Charts zwischen 1955 und 1971, dem Zeitpunkt, bis zu dem mein Nachschlagewerk reicht, also gab es sicher mindestens 20 mehr. Als Columbia Records ihn 1986 fallen ließ, weil die Hits ausblieben, waren sie auf den Sturm der schlechten Presse nicht gefasst, den sie damit auslösten. Aber Cash brauchte die Plattenfirma nicht mehr, weil seine Shows immer noch ausverkauft waren und weil sein House-of-Cash-Komplex aus Verlagen, Aufnahmestudios und anderen Unternehmungen ihm immer noch jede Menge Geld einbrachte.

Er hätte dort aufhören können, den Weg eines halbwegs pensionierten Country-Stars gehen können. Aber er tat es nicht. Er wusste, dass er immer noch ein Spieler war, und er wusste, dass da draußen junge Songwriter waren und an Sachen arbeiteten, die er aufnehmen wollte. Und er hatte Fans an den unwahrscheinlichsten Orten: Rick Rubin, der mehr Haare hatte als Cashs gesamte Band, war ein Typ, der ein Vermögen mit Rap gemacht hatte, als er noch im College war, und dann noch ein Vermögen mit Metal. Er und Cash kamen großartig miteinander aus, und bald machte er Aufnahmen für Rubins Label. Sein zweites Album für Rubin, »Unchained«, bekam den Grammy als bestes Country-Album. Cash feierte dies mit einer ganzseitigen Anzeige in den Zeitschriften des Musikbusiness. »American Recordings und Johnny Cash möchten das Musikestablishment und das Country-Radio von Nashville für ihre Unterstützung würdigen«, stand da über einem Bild eines wütenden Johnny Cash mit Stinkefinger.

Das tut man nicht in Nashville. Aber welchen Sinn hat es zu reden, wenn man nicht offen sprechen kann: Diese Leute hatten Johnny Cash vor langer Zeit hinter sich gelassen. Nur die Fans – und die Clique der wirklich kreativen Country-Leute – standen noch hinter ihm. Ich weiß, ich könnte jeden anrufen, den ich in jener Woche in Nashville getroffen habe und sie wären genauso traurig wie ich, dass John R. Cash von uns gegangen ist. Jeder Musiker, dem gesagt wurde, er sei zu »Country«, um es zu schaffen, jeder Punkrocker mit einem Sinn für die eigene Geschichte, jeder, der auch nur einen Dreck darauf gibt, wofür Amerika vor dem Staatsstreich von 2000 stand, ist genauso in Trauer.

Nein, Roseanne, ich habe deinen Daddy nie kennen gelernt und werde es jetzt auch nicht mehr. Aber wir sind reicher, weil wir ihn hier hatten.

Aus dem Amerikanischen von Martin Schuster.